Eine Feier des Nonkonformismus
Nein, den zum Leichenwagen umgebauten Jaguar E-Type haben sie nicht in die Moerser Kapelle gestellt. Zentrales Requisit ist die Badewanne, in der Harold seine erste von zahlreichen Selbstmord-Performances zelebriert – und in der Harold und Maude später ihren ersten Sex haben werden: Harold, bald 20, introvertiert, melancholisch, depressiv, und Maude, bald 80, extrovertiert, schlagfertig, flippig – ein hochbetagtes Hippie Girl, ausgestiegen aus der Welt der Konventionen, ohne sich anzubiedern an die junge Generation, die jetzt, im Zeitpunkt der Film-Handlung, den Ton angibt: die Flower Power Generation. Hal Ashbys Film, der Kultfilm des Rezensenten in seinen jungen Jahren, datiert aus dem Jahre 1971, und das Schlosstheater Moers belässt ihn weitestgehend in dieser Zeit.
Die älteren werden sich an den Film erinnern. Wer ihn einmal sah, ging immer wieder für ihn ins Kino, und zwar möglichst in die englischsprachige Originalfassung, die dank der die einzelnen Szenen strukturierenden Songs von Cat Stevens mehr Witz und mehr Schwung entfaltete als die deutsche Übersetzung. Wer ihn nicht kennt, kann ihn nach wie vor im ältesten Programmkino des Ruhrgebiets, der Galerie Cinema in Essen, sehen, wo er seit 1975 jeden Sonntag gezeigt wird: ununterbrochen, Woche für Woche seit fast 50 Jahren. Constanze Hörlins Inszenierung bleibt nah an seinem Plot – und es gelingt der Inszenierung, viel von seiner Flower-Power-Atmosphäre wiederzubeleben. Statt Cat Stevens kommt andere Musik zum Einsatz, „Take a walk on the wild side“ von Lou Reed zum Beispiel, auch aus den frühen 1970ern – geschenkt, passt auch, und ohnehin stellt sich der durch die musikalische Gestaltung entstehende Sog im Theater und mit deutschsprachigen Texten weniger ein als im Film. Der Witz der einzelnen Szenen, ihr Überraschungseffekt funktioniert dagegen unverändert. Der Nonkonformismus der beiden Hauptfiguren steht im Vordergrund. Harold, konservativ erzogen und im Grunde selbst wertkonservativ, ist in seiner Morbidität nicht weniger eine Provokation für die Gesellschaft als die flippige Aussteigerin Maude. Und das noch heute.
Harold, wir erinnern uns, geht gerne auf Beerdigungen. Da ist die kleinste Spielstätte des Schlosstheaters, die alte Friedhofskapelle an der Rheinberger Straße, natürlich der ideale Spielort. Ungewöhnlich für das Schlosstheater Moers, aber passend zur Beerdigungsfeier ist sie ganz konventionell bestuhlt: Dort, wo in Moers normalerweise das Publikum platziert wird, nämlich in zwei Etagen übereinander an den Wänden, turnen die Schauspieler. Die Zuschauer aber sitzen im Kirchenschiff und blicken … auf die Badewanne. Wo Harold sich gerade in aller Ruhe die Pulsadern aufschneidet... - Schreckensreaktionen bleiben aus, es ist schließlich Harolds 15. Suizid-Performance, und nur die erste war ernst gemeint. So richtig gezündet, erklärt Harold, hat eigentlich nur die Show mit den Selbstschussanlagen, die ihm den Kopf durchlöchert haben.
Brav lässt Harold sich zum Therapeuten schicken, und auch wenn der eine Knalltüte ist, wird doch deutlicher als im Film, dass der Knabe, so witzig er auch beim Publikum rüberkommt, eine depressive Störung hat. Der Junge braucht ‘ne Frau, denkt Mutter, arrangiert ein paar Dates, aber stattdessen trifft Harold die 80jährige lebenslustige Maude. Die klaut auch schon mal ein Auto (keinen Jaguar, eher ein Gefährt, das an einen Kabinenroller erinnert) und hat das Herz am rechten Fleck. Wo die Liebe hinfällt, ist manchmal verwunderlich. Diesmal bleibt beim Augenzeugen kein Auge trocken.
Leonardo Lukanov ist ein großartiger Harold – verschlossen, schluffig, morbide und doch mit tollem Humor, wenn er seine von Mutter vermittelten Heiratskandidatinnen karikiert. Starre Mimik, zeitlupenartige Bewegungen – wie kriegt der Kerl das hin, dass er dennoch einfach zum Knuddeln wirkt? Joanne Gläsel trifft die Figur der Maude ebenfalls perfekt. Leider muss sie auch alle anderen Rollen spielen, für die sie sich jeweils eine einfache Papp-Maske vors Gesicht bindet. Die Verwandlung gelingt nur vereinzelt und nie so überzeugend wie Lukanovs Bewerberinnen-Karikaturen. Aber als Maude ist Gläsel eine Show – das krasse Gegenteil des schlafmützigen, wenngleich keineswegs denkfaulen 20jährigen jungen Mannes. Maude besitzt die Kraft der Imagination, wird satt von einem „Nasenschmaus“ (von rein olfaktorischen Vorstellungen), ist ein flotter Feger, an den die drei jungen pseudo-sexy provinziellen Hochzeitskandidatinnen nicht ansatzweise heranreichen. Harolds Mutter hat ihren Sohn zum Therapeuten geschickt, der fehlgeleitete, schablonenhafte Therapiegespräche führt – Maude dagegen ist die perfekte Therapeutin für einen in sich verkapselten, die Fesseln der Konvention in morbiden Performances zu sprengen versuchenden Einzelgänger. Beide sind im Grunde gleichermaßen sensibel. Harold, der auf Schrottplätze geht und es liebt zuzusehen, wie die Autopresse schicke Fahrzeuge in kleine Metallwürfel verwandelt, ist empfänglich für die Vergänglichkeit der Welt. Maude dagegen liebt die empfindsamen Blumen, die auf zarte Weise wachsen, blühen, sterben und sich nach ihrem Tod „in etwas anderes verwandeln“, in etwas Zauberhaftes, Liebens- und vor allem Lebenswertes. Harold, ein Kind der Wohlstandsgesellschaft auf der Suche nach einer angemessenen Form auszubrechen. Maude, von adliger Geburt, wie man beiläufig erfährt, vertritt die Philosophie der Hippie-Jugend der 1970er Jahre: „Kein Mensch besitzt irgendwas. Wir kommen mit nichts auf die Welt, und wir verlassen sie mit nichts. Ist es da nicht absurd, an Besitz zu denken?“ Sie klaut ein Auto, und wenn sie damit losdüst wie eine wildgewordene Brocken-Hexe, zaubert sie Harold zum ersten Mal ein scheues, aber wunderhübsches Lächeln ins Gesicht. „Am besten, man verzichtet auf allzu viel Moral. Man verzichtet sonst auf zu viel im Leben“, weiß Maude.
Zuletzt feiert Maude ihren 80. Geburtstag. „80 verweht“, pflegte die Mutter des Rezensenten müde zu zitieren, nachdem sie diese Grenze überschritten hatte, und zog irgendwann die Konsequenzen aus ihrer Müdigkeit. Den Sekt auf Maudes Jubiläum trinken wir draußen, auf dem alten Friedhof der Kapelle. Wer eine Mutter hatte wie die des Rezensenten, der muss in der Schlussszene dieser wunderbaren, humorvollen, poetischen Inszenierung kräftig schlucken.