Übrigens …

Unser Deutschlandmärchen im Aachen, Theater

Volkstheater interkulturell

Die Bühne ist in eine Kneipe längst vergangener Jahre verwandelt: biedere Holzvertäflung, auf der hohen Theke – die später auch als Video-Wand dient - ein künstlicher Rosenstrauß, dahinter Erinnerungsstücke, auf den Tischen Häkeldeckchen. Im riesigen Fernseher läuft „Heidi“: Die perfekte Kulisse fürs Volkstheater.

Ein trauriges türkisches Lied ertönt, „Gurbet“ von Özdemir Erdogan, es klagt von Heimweh, den Tränen des Geliebten und einem fremden Land. Im Laufe des Abends dann gibt es noch viel türkische Musik, etwa aus den „Songs of Gastarbeiter“, aber auch Lieder aus Syrien, Bulgarien und Griechenland, da das Ensemble multikulturell besetzt ist.

Dann geht die Saaltür auf: ein schöner junger Mann in gepflegtem Outfit tritt ein (brillant: Furkan Yaprak). Er trägt - wie alle Männer in dieser Geschichte - Anzughosen und Lederschuhe, nicht Jeans und Turnschuhe. Er stimmt ein in das melancholische Lied und noch vor der Bühne begrüßt er uns, heißt uns willkommen und stellt sich vor: „Heute bin ich hier als Dincer und erzähle euch ein Märchen, mein Deutschlandmärchen. Oder unser Deutschlandmärchen.“ Obwohl dieses Märchen in Nettetal vor der niederländischen Grenze beginnen soll, werden wir zunächst weit zurück in die Geschichte der Familie geführt. Es geht drei Generationen zurück zur Urgroßmutter, der „Nomadin!“ Ayse, die aus Griechenland in die Türkei floh und dort als Hausklavin die Tochter Hanife bekam. Hanife folgte 1965 ihrer Tochter Fatma nach Nettetal, wo wir sie jetzt als originelle, selbstbewusste und auch urkomische Großmutter von Dincer erleben, hinreißend gegeben von Petya Alabozova. Tochter Fatma (höchst präsent gegeben von Bettina Scheuritzel) hingegen gibt den Prototyp der Gastarbeiterfrau: verlässlich, belastbar, arbeitsam, Mittelpunkt der Familie, aber auch immer wieder bereit, der Männermacht schicksalergeben nachzugeben. So folgte sie schon damals nur halbherzig den Versprechungen des windigen Werbers Yilmaz (als liebevollen Leichtfuß temperamentvoll gegeben von Shehab Fatoum), der sie als Braut in die Fremde entführte, in das Land „wo man das Geld von den Bäumen pflücken kann" und wo ihm die „brillanten Ideen“ nur so zuzufliegen schienen.  Doch dann musste das Geld auch in diesem Land hart verdient werden und außerdem war es schließlich an Fatma, einzustehen für Schulden, die der verantwortungslose Yilmaz mit ihrer gefälschten Unterschrift angehäuft hatte.

Nach dreizehn Jahren kommt endlich das so sehnlichst gewünschte Kind, der Sohn Dincer zur Welt. Fatma wollte ihn Murat - auf Deutsch der Wunsch - nennen, doch der Vater des Vaters telegraphierte aus der Türkei, dass er Dincer genannt werden soll. Und Fatma beugte sich wieder einmal dem Männerbefehl. Herrlich, wie Furkan Yaprak - jetzt in Shorts und T-Shirt - schon vor der Geburt die Sohnes-Rolle übernimmt, sich urkomisch gegen Omas Zutraulichkeiten zu wehren versucht und dann schon im Kindergarten erfahren muss, dass bei ihnen vieles anders läuft als bei den anderen. Es gibt urkomische Szenen, die das Bemühen um den Spagat zwischen Pflege des kulturellen Heimaterbes und Rollenverständnisses einerseits und dem Integrationsbemühen in die fremde neue Welt andererseits ins Bild setzen.  Am Ende jedoch wird Dincer nicht aufhören, in jeder freien Minute „dicke Bücher“ zu lesen und Theater zu spielen. Obwohl er schon als Achtjähriger mit aufs Feld ging und vom ersten selbstverdienten Geld der Mutter hellblaue Sandalen kaufte, die sie allerdings im ganzen Leben nur einmal trug, wird der Junge in Fatmas Augen nie ein „richtiger Mann“ werden, was für sie „der Arbeiter“ ist. Das allerdings hat ja in ihren Augen auch ihr Yilmaz mit seinen „brillanten Ideen“ nicht geschafft.

Im letzten Bild ist ein blauer Vorhang vor die Kneipe gezogen, davor sitzen auf einer riesigen hellblauen Sandale drei Fatmas: ein Mutterchor. Wir sind in der Mitte der Neunzigerjahre, Dincer hat seine ersten Gedichte veröffentlicht und ist sich sicher, dass - trotz aller Liebe zur Mutter und allem Verständnis für die Nöte der Sippe - jeder nach seiner eigenen Sprache suchen muss, denn „nur mit Hilfe der Sprache wirst du dich retten können“. Langsam wird der Mutterchor unsicher in seiner Forderung nach Geld und Arbeit als einziger Grundlage der „richtigen“ Integration. Verunsichert fragen sie sich, ob eine „Lüge das Raster ihrer Geschichte“ gewesen sein könnte und entlassen nicht nur Dincer mit der Aufforderung: „Traut euch! Habt keine Angst vor dem Leben!“

In seinem Debütroman Unser Deutschlandmärchen verwebt Dincer Gücyeter die Geschichte seiner Familie, die 1965 aus der Türkei nach Deutschland kam, mit fiktiven Elementen von drei Gastarbeitergenerationen. Für den Roman wurde der Autor 2023 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse geehrt. Nachdem er schon vom Maxim Gorki Theater in Berlin und dem Theater Münster für die Bühne adaptiert wurde, haben Antigone Akgün und die Dramaturgin Sara Gabor eine Fassung für das Aachener Theater verfasst, die die Frauenfiguren stark betont.

Einem rasant spielenden, multikulturellem Ensemble gelingt es, Klischees zu umschiffen und die Ambivalenz des Familienalltags in eindrucksvollen Bildern darzustellen, begleitet von Tanz, Gesang und folkloristischer Musik - mal düster, mal hoffnungsvoll.