Keine Märchenstunde mit dem „bösen“ Wolf
Seit einiger Zeit wird in allen Medien eine lebhafte Diskussion um ADHS geführt: Was ist das? Wer ist betroffen? Wie kann man helfen? Kann man überhaupt helfen? Da kommt die dramatisierte Fassung von Sascha Stanisic mit dem Deutschen Jugendbuchpreis 2024 ausgezeichneter Roman Wolf im Theater am Alten Markt in Bielefeld gerade recht. Bitte recht verstehen: die von Regisseurin Nadja Loschky, Dramaturg Ralph Blase und dem Ensemble erarbeitete Fassung stellt das Problem ADHS nicht zur Diskussion. Aber an den Verhaltensweisen der Protagonisten lässt sich studieren, in welchen Formen und Verhaltensweisen ADHS vielleicht zu entdecken ist.
Kemi (Rosalia Warnke) ist gar nicht begeistert. Seine alleinerziehende Mutter hat ihn zu einer Ferienfreizeit im Wald angemeldet. Im Wald! Wo Kemi Holz doch nur in Form von Schrank mag! Kemi weigert sich vehement. Denn er weiß, dass er dort auch nur wieder auf seine ihn wenig begeisternden Mitschüler treffen wird. Aber es hilft nix. Zusammen mit Obermobber Marko (Clara Fenchel) und dessen Gefolgsleuten, den Dreschke-Zwillingen (Faris Yüzbasioglu, Dreschke 1 und Ronja Oehler, Dreschke 2) und Jörg dem Einsamen (Jan Hille) sowie den Erziehern Bella (Ronja Oehler) und Piet (Faris Yüzbasioglu) und dem Koch (Thomas Wolff) geht es also in die Natur, die Kemi total ablehnt.
Bei der Bettenverteilung stellt sich heraus, dass Kemi und Jörg sich ein Zimmer teilen. Behutsam gehen sie sich aus dem Weg. Aber Kemi weiß, dass der Naturnerd Jörg von Marko gern gemobbt wird und dass die Dreschke-Zwillinge genauso gern und bereitwillig mitmachen. Im Verlauf des Aufenthalts im Wald wird dieses Mobbing immer schlimmer. Kemi registriert das und fühlt sich unwohl, unter anderem, weil er nicht eingreift. Dazu fehlen ihm Kraft und Mut. Dabei bewundert er Jörg, wie gut er sich in der Natur auskennt. Jörg seinerseits hat zwar die eine oder andere Strategie, mit der er die Gemeinheiten lindern kann, aber Konfrontation gehört nicht dazu. Er reagiert mit Rückzug. Doch wenn die Erzieher zur Grüppchenbildung aufrufen für Abenteuer im Wald oder beim Baumklettern stehen Kemi die Haare zu Berge, weil Marko bevorzugt Jörg wählt.
Einmal versucht Kemi die sich um ihr eigenes Wohlbefinden und Liebesleben kümmernden Erzieher auf die Probleme im Lager aufmerksam zu machen. Die Antwort war zu erwarten: Das müssen die beiden unter sich austragen. Vorsorglich habe man ihnen geraten, sich aus dem Weg zu gehen. Was in einer solchen Gruppensituation eher schwierig ist und natürlich Marko und Gefolge anstachelt. Der Höhepunkt der Mobberei, die hier schon an Persönlichkeitsverletzung grenzt, ist gesetzt, als Jörg vom Baumklettern mit seinem demolierten Rucksack zurückkommt. Auf die Klappe hatte Jörg ganz viele Pins gesteckt. Erinnerungen von seinen Ausflügen und Bergbesteigungen mit seinem Vater - offensichtlich auch er alleinerziehend. Die Pins bis auf eins sind alle weg.
Rosalia Warnke gibt den unzufriedenen Kemi in einer Mischung aus Drückeberger einerseits und Beschwichtiger andererseits, immer aber unzufrieden mit sich und der Situation. Jan Hille als Jörg ist von vornherein auf Rückzug bedacht, schluckt die ihm angetanen Demütigungen. Einmal wehrt er sich mit seinen Waffen: Der grundsätzlich in Haltung und Sprache eindrucksvoll aufmüpfige Marko hat vor Jans und Kemis Hütte eine überlebensgroße Karikatur Jans in den Sand gezeichnet. Da kniet Jan sich hin und korrigiert die Skizze so, dass der Dargestellte erkennbar wird. Aber für derartige Feinheiten ist außer Kemi niemand empfänglich.
Interessanterweise gelingt es dem Koch, die Kinder aus ihrer Lethargie zu reißen. Im Unterschied zu den Erziehern erzielt er allein durch seine Präsenz Wirkung. Seine Tätigkeit erhöht ihn insgeheim zum Chef der Gruppe. Seinen Anordnungen zum Küchendienst wird Folge geleistet, weil sonst nichts zum Essen auf dem Tisch steht. Mit seinen Erfahrungen wiederum öffnet er vor allem Kemi ein wenig die Augen.
Als längst frustrierte und nicht mehr nüchtern werdende Försterin Beate hat Thomas Wolff einen hinreißend komödiantischen Auftritt. Die Suada gegen Umweltverschmutzung, Naturverachtung und -zerstörung ist zwar nah an der Überzeichnung von der Groteske zur Karikatur, aber der Vortrag erweist einmal mehr die Vergeblichkeit all solcher Appelle. Dies ist in dieser rundum gelungenen Inszenierung, die nie eine Lösung der Gruppenprobleme anbietet oder erörtert, der Punkt für den notwendigen offenen Schluss. Eine besondere Rolle ist dem Wolf zugedacht. Zunächst ist er ein Angstphänomen für Kemi. Er bereitet ihm schlaflose Nächte. Aber als Jörg auch vom Wolf redet, verwandelt sich das Tier. Die Verwandlung war vor allem in der sensiblen Musik von Zara Ali zu hören und zu spüren.
Der Beifall der ohnehin schon zahlreich erschienen Jugendlichen, aber auch der geduldeten Erwachsenen war heftig, reichhaltig und teilweise jubelnd.