Die Frage nach der Normalmoral von Hans Kohlhase bis Trump
Auf der großen dunklen Bühne stehen vorne rechts und links zwei aus großen Blöcken zusammengesetzte Podeste, auf denen sich jeweils eine fast lebensgroße Pferdestatue wie im Sprung erhebt. Und um Pferde geht es ja vordergründig in Kleists Michael Kohlhaas, der Novelle, die auf eine wahre Geschichte im 16. Jahrhundert zurückgeht. Wenn der Autor auch das Geschehen um den Rosshändler Hans Kohlhase nicht ganz authentisch übernimmt, da ihm die historischen Untersuchungsakten nicht zugänglich waren, so geht es doch in allen Wiedergaben um vergeblich geforderte Gerechtigkeit und maßlose physische Rache des Einzelnen. In der Bonner Inszenierung wagt es die Autorin und Regisseurin Rebekka David zusammen mit einem spiel- und diskussionsfreudigen Ensemble, diese alte Geschichte in unsere Zeit hinein zu verlängern.
Unter tosendem Gewitterlärm nähert sich gebückt eine Gestalt dem Bühnenrand und beginnt am viel zu niedrigen Mikro mit einem Erzähltext, ganz nah am Kleist’schen Original. Er stellt sich vor als Knecht Waldmann (eindrucksvoll: Daniel Stock) seines Herrn Michael Kohlhaas (reichlich undifferenziert: Janko Kahle), der im Dorf Kohlhaasenbrück, „das von ihm den Namen führt“, mit Frau und fünf Kindern als „einer der rechtschaffensten Bürger“ seiner Zeit lebt.
Zusammen mit seinem Herrn und der treuen Magd Heerse (Karolina Horster) macht er sich auf ins sächsische „Ausland“, um dort eine Koppel junger, wohlgenährter, glänzender Pferde zu verkaufen. Das sind ein Kastanienbrauner, ein Schweißfuchs mit Blesse, ein Schecke mit schwarzgelben Flecken und ein strahlendes Paar Rappen. Von dieser Pracht sehen wir natürlich nichts, vielmehr beobachten wir die Drei über die Bühne hoppeln und hören dazu Kastagnetten-Geklapper. Das ist beim ersten Mal amüsant, in der ständigen Wiederholung wird es aber albern und unsinnig.
Dann beginnt das Drama: auf einem der Rösser-Statuen sitzt der geld- und machtgierige Junker Wenzel von Tronka (Jacob Z. Eckstein), der unrechtmäßig Gebühr und Passierschein verlangt und dazu noch die zwei Rappen als Pfand fordert. Bei Kohlhaas‘ Rückkehr sind die Tiere ruiniert und die zur Pflege zurückgelassene Magd Heerse misshandelt und verjagt. Kohlhaas fordert sein Recht, das Warten auf Antwort wird dabei unnötig lang ausgespielt, schließlich kommt seine Frau Lisbeth (überzeugend im dreifachen Rollenwechsel: Birte Schrein) bei dem Versuch, ihm zu seinem Recht zu verhelfen, ums Leben. Als ihm sein Recht verwehrt wird, reagiert er mit roher Gewalt: Zerstört die Burg des Junkers - anschaulich erspielt, indem er im Bühnennebel die Klötze vom Podest einer Reiterstatue entfernt, die später als Kreuze eines Soldatenfriedhofs aufgestellt werden: ein eindrucksvolles Bild.
Hier verlässt Rebekka David die Kleist’sche Handlung und schiebt eine Diskussion zur Frage von Recht und Unrecht zwischen den Bediensteten ein, die sich gerade die Taschen mit Raubgut vollgestopft haben. „Nie kann es rechtens sein, auf Unrecht mit Unrecht zu antworten“ steht gegen die Frage, ob es denn rechtens sein kann, „Unrecht allzeit mit Recht zu beantworten“. Dann führt die Inszenierung eine eigene Figur ein, die „Mittlerin“. Sie kommt aus dem Heute und bleibt im Stück, diskutiert später, nach dem Brandschatzen in Wittenberg und Leipzig weiter zu gesellschaftlichen und moralischen Themen. Dabei geht es allerdings teilweise wirr durcheinander von Kant bis zu Fragen um Kindes- und Frauenrecht. Schließlich kommt man zu unserer Demokratie, zu Terrorismus, dem Streifschuss auf Trumps Ohr und die AfD in Sachsen.
Dann kehren wir zurück zum Kleist’schen Text. Nach der eindrucksvollen Begegnung mit Luther (kraftvoll wieder Birke Schrein) lässt David den Schauspieler Janko Kahle als Kohlhaas den Hergang zu seiner Hinrichtung und Sarglegung selbst erzählen. Auch vom Ritterschlag der Söhne berichtet er noch und endet Kleist zitierend mit dem Satz: „Das Weitere muss man in der Geschichte nachlesen“.
Doch Waldmann - Knecht und Erzähler - stoppt das Ende, schickt die Mittlerin und Karl, den Tronka’schen Küchenknecht mit angedeuteten Lösungsvorschlägen noch einmal auf die Bühne, die allerdings nicht wirklich zu einem besseren Ende führen. Dann tragen alle verbliebenen Figuren Pferdeköpfe und die Magd Heerse stellt die Koppel vom Beginn noch einmal vor: „ein Kastanienbrauner…“.