Tanz auf dem Vulkan
Nein, dies ist nicht der KitKat Club. Zwei Conférenciers in glitzernden schwarzen Anzügen ziehen geheimnisvoll den Vorhang zur Seite und geben den Blick auf eine Bühne frei. Dort räkelt sich eine schöne Blonde im weißen Kleid vor dem Spiegel, dort wird bald viel gesungen, dort wird mancher erotische Tanz zu sehen sein. Genderfluide Typen genießen die Freiheit, die sie im Alltagsleben nicht erleben dürfen, und ein sündiges Mädel versucht mit Fabian zu kopulieren. So rum, nicht umgekehrt, denn Fabian, das werden wir noch sehen, wandelt eher passiv durchs Leben. Viele dieser Szenen, die bis zur Pause circa 75 Minuten lang kaleidoskopartig einen Blick auf das Berliner Nachtleben werfen, erinnern an das legendäre Musical Cabaret, zumal Thomas Dannemann Erich Kästners Roman Fabian oder Der Gang vor die Hunde am Schauspielhaus Bochum als Revue inszeniert, mit viel Musik aus den 1920er und 1930er Jahren, mal auch mit einem revolutionären Lied aus dem spanischen Bürgerkrieg, mit Clementine Pohls tollen Kostümen. Aber manchmal stellt er dem Publikum auch kleine Fallen. Wie in der geschilderten Anfangs-Szene.
Die spielt allerdings weder im KitKat Club noch in einem erotischen Etablissement. Da schleicht sich zwar ein etwas chaplinesker Typ mit Melone an das hübsche Mädchen heran, aber er hat keine sexuellen Absichten, er hat eine Pistole. Toll, denkt man, da ist doch gleich im ersten Bild die Atmosphäre des Swinging Berlin in den letzten Jahren der Weimarer Republik eingefangen: das Anything Goes, die sexuelle Freizügigkeit, die Kreativität in der Mode - und die Kriminalität der Straße. Und dann lacht man befreit: Man wohnt gerade einem Werbe-Dreh für Salem-Zigaretten bei. Weil der wirklich lustig ist, folgen noch zwei weitere.
Viel Humor zeichnet Dannemanns Inszenierung aus, die er mit den 2026 ihren Abschluss anstrebenden Studierenden der Folkwang Universität der Künste (verstärkt durch Michael Lippold aus dem Ensemble des Schauspielhauses und die ebenfalls erfahrene Schauspielerin Lise Wolle) auf die Bühne des Schauspielhauses Bochum zaubert. Rasant und turbulent geht es zu. In Windeseile wird die an eine Manege erinnernde Bühne vom Werbeatelier zum Caféhaus zur U-Bahn-Station zur Etagenwohnung, wird das Bett zum Taxi umfunktioniert. Manchmal überdeckt der spritzige und witzige Charakter der Szenen den ernsten, düsteren gesellschaftlichen und politischen Hintergrund der Geschichte. Auch darin erinnert die Inszenierung an das Cabaret-Musical. Cabaret, auf Romantexten des britischen Autors Christopher Isherwood beruhend, und Kästners Fabian spielen zur selben Zeit am selben Ort, und der war gleichzeitig lustig und bedrohlich. Berlin Ende der 1920er - das war ein Tanz auf dem Vulkan. Die Freiheit war groß, aber das soziale Netz löchrig. Die Weltwirtschaftskrise wütete, die Arbeitslosigkeit stieg in ungeahnte Höhen, Vermieterin Frau Hohlfeld ist in Kästners Roman ein typisches Beispiel für den Untergang der Bourgeoisie. Die Nationalsozialisten machten sich mehr und mehr bemerkbar und wurden zur Bedrohung der Demokratie - man ahnt, warum Kästners Roman plötzlich wieder so gut in unsere Zeit passt. Dass Fabian sich als Werbetexter verdingen muss, um durchs Leben zu kommen, ist ja auch nicht lustig: Der Mann ist promovierter Germanist und hätte fraglos Talent für Höheres. Als „Propagandist“ wird er sich einmal bezeichnen, und auch dieser Begriff lässt an die bald das Ruder übernehmenden Nationalsozialisten denken, die Kästners Roman 1933 als entartete Literatur ins Feuer warfen - unter dem kaum stichhaltigen Vorwurf der Pornografie übrigens.
Fabian scheint’s zufrieden mit seinem Werbetexter-Dasein. Er ist ein wenig ehrgeizlos. Zwar hat er hohe moralische Maßstäbe, aber er ist auch ein Melancholiker und Pessimist und zieht daraus eine Rechtfertigung für sein eher antriebsloses Verhalten. Da er bei Kästner die Hauptfigur ist, muss der arme Kerl in Bochum nahezu die gesamte Spieldauer auf der Bühne stehen. Anton Balthasar Römer meistert das großartig. Er ist nicht nur ein Ruhepol in der turbulenten Inszenierung, sondern er vermag den Zuschauern Orientierung in der manchmal etwas fragmentierten Handlung zu geben.
Fabians Freund Labude bildet den krassen Gegenpol. Auch er ist promovierter Germanist. Ehrgeizig verfolgt er seine Karriere weiter mit einer möglicherweise bahnbrechenden Habilitationsschrift zu Lessing; ein blöder Witz über diese Arbeit wird ihn später in den Selbstmord treiben. Auch in Politik und Gesellschaft ist Labude - anders als Fabian - ein Kämpfer. Er streitet für eine Weltveränderung durch eine radikalbürgerliche Bewegung - ob gar für einen Umsturz, bleibt in der Bochumer Inszenierung ein wenig im clair obscur. Sympathischerweise spricht Leander Hesse von dem Ziel, „den Kapitalismus auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren“. Schauspielerisch erscheint Hesse manchmal ein wenig zu zurückhaltend, doch in solchen Schlüsselszenen, in denen es um Politik geht, macht er deutlich, wie sehr Labude für seine Sache brennt. Dass den Nazis Kästners Roman nicht nur wegen vorgeblichen Zweifeln an der Sexualmoral missfiel, macht spätestens Labudes Selbstbeschreibung deutlich: „Ich bin der Heldenschänder, der nach Leichen stinkt.“
Während Labude seinem Freund Fabian zu vermitteln versucht, dass Veränderung nur mit Hilfe von Machtausübung möglich sei, weist Fabian jedes Streben nach Macht und Wohlstand von sich. Das ändert sich, als er Cornelia Battenberg kennenlernt, eine Referendarin bei einer großen Berliner Filmgesellschaft, hochintelligent, gutaussehend, souverän im Auftreten. Wie Cornelia und Fabian einander auch körperlich näherkommen, gehört zu einer der zartesten, schönsten Liebes-Szenen, die man seit langem im Theater sah. Laoise Lenders, die zuvor schon in einem humorvollen Sketch als „das Arbeits-Los“ für bittersüßes Vergnügen gesorgt hatte, gibt überzeugend den Typ Frau, für den Mann schon mal sein Leben zu ändern versuchen würde. Aber auch sie ist karrierebewusst. Filmschauspielerin möchte sie werden. Dass man dafür auch mal mit dem Film-Fips ins Bett muss, blieb bis in die jüngste Zeit in manchen Fällen bittere Realität. MeToo gab’s 1930 noch nicht.
Ein bisschen Feminismus gönnen sich Dannemann und sein Team dennoch. Ob Männerbordelle die richtige Idee wären? Männliche Strip-Shows sollen ja bis heute recht erfolgreich sein. Erfolgversprechend sollten die Karrieren der jungen Schauspielschülerinnen und -Schüler sein, denen Dannemann reichlich Gelegenheit gibt, ihre Talente in jeweils verschiedenen Rollen sowohl schauspielerisch als auch sängerisch unter Beweis zu stellen. Neben Römer, Hesse und Lenders überzeugt Conférencier Florian Kreßer in zahllosen anderen Rollen durch eine bemerkenswerte Wandlungsfähigkeit. Franka Forkel, seine Kollegin bei der Moderation, erfreut durch ihr komisches Talent als wohl aus materieller Not zur Sexarbeiterin verwandelte ehemalige Konservenfabrikarbeiterin Maria; auch Luke Venatier und Klara Günther haben großartige Szenen - von den beiden Profis Michael Lippold - u. a. als aalglatter, auch beim Publikum Widerstände weckender Zigaretten-Chef - und Lise Wolle - in zahlrechen, auch musikalischen Auftritten - ganz zu schweigen.
Vielleicht wollte Dannemann seinen Schützlingen etwas zu viel Gutes tun: Mit 160 Minuten (inkl. Pause) ist die Aufführung um mindestens eine halbe Stunde zu lang. Der Schwung der Revue lässt sinnvollerweise im zweiten, erheblich nachdenklicheren, sowohl zärtlicheren als auch tragischeren Teil nach. Erkauft wird das allerdings durch manch zähen Moment. Der Schluss lässt noch einmal betroffene Stille im Parkett entstehen. Er ist unpolitisch-tragisch. Aber Labude hatte in seinem Abschiedsbrief das Grölen der Rechtsradikalen ja längst vorausgesehen. Kästners Roman erschien 1931. Zwei Jahre später war er Opfer der Bücherverbrennungen.