Übrigens …

König Lear im Schauspielhaus Düsseldorf

Das Abgleiten eines machtgewohnten Narzissten in Wahnsinn und Tod

Ein opulenter Saal tut sich auf, die Seitenwände mittelalterlichem Chorgestühl nachempfunden, an der Rückwand unter einem mächtigen Turm ein prunkvoller Thronsessel, ein wenig verloren darauf mit Goldreif auf der Stirn der Herrscher. Vorne links zwei entindividualisierte weibliche Figuren, bis auf die bleichen Gesichter ganz in dekorativem Schwarz. Vorne rechts ein Hochzeitspaar: sie, ähnlich aufwendig aufgeputzt in Weiß; er schlicht in zeitlosem Schwarz. Bühnennebel steigt auf und eine gebückte Figur verbirgt sich im Halbdunkel.

Damit sind alle auf der Bühne, außer dem blitzgescheiten, von Anne Müller hinreißend gegebenenNarren, der erst in der zweiten Szene seinen Auftritt hat und dann bleibt, bis Lear selbst der Narretei, des Wahnsinns verfällt. Mehr Personal gibt’s nicht bei der vom russischen Regisseur Evgeny Titov auf seine „Essenz“ konzentrierten Fassung des Shakespeareschen König Lear. Ganze Handlungsstränge fehlen, so die Gloster-Tragödie, die im Original als parallele Konfliktentwicklung mitläuft. Nur Edmund, der illegitime Sohn des Hauses, bleibt und erhält bei Titov sogar eine von Shakespeare nicht vorgesehene Bedeutung (ein wenig oberflächlich: Valentin Stückl). Auch der Feldzug Frankreichs gegen Britannien fällt weg und damit wichtige Passagen der Königstochter Cordelia, die in der verbleibenden schmalen Partie ergreifend gegeben wird von Jule Schuck.

Burghart Klaußner zeigt den Autokraten in imposanter Ambivalenz, wenn auch zu Beginn eher verhalten. Die Reichsverteilung an die drei TöchterGoneril und Regan (Jenny Schily und Friederike Wagner in zum Verwechseln ähnlicher Eindimensionalität) und Cordelia, die Jüngste und bisherige Lieblingstochter des Vaters, beginnt in erstaunlicher Sachlichkeit, obwohl er vorab verbale Liebesbeweise fordert. Ungerührt von den lebensfremden Schmeicheleien und Lippenbekenntnissen der beiden Ältesten übergibt der König den beiden einen Anteil des Reiches. Doch ganz anders läuft es bei der Jüngsten: Cordelia, im Brautkleid unmittelbar vor der Hochzeit, versichert dem Vater mit Blick auf den Bräutigam ihre geteilte Liebe: „Ich liebe Euer Hoheit nach meiner Schuldigkeit; nicht mehr nicht minder.“ Lear versteht gar nichts, ist in seinem Anspruch verletzt. „Besser du wärst nie geboren!“ wütet er, enterbt und verbannt sie und den treuen Diener Kent(unscheinbar:Manuela Alphons), der ihr beisteht, gleich mit. Und so ganz ohne Mitgift will sie der Bräutigam auch nicht mehr, bei Titov (anders als im Original) der schurkische Edmund, Gosters Bastard.

Während es bei dieser Auseinandersetzung - trotz eines Fußtritts des alten Königs gegen seine vor ihm niederfallende Tochter - noch emotional gemäßigt zugeht, wird es dramatisch, als Lear erkennen muss, dass seine Forderung nach dem Erhalt seiner königlichen Privilegien von den machthabenden Töchtern nicht erfüllt wird. In rasender Wut verwünscht und verflucht er die Töchter und zugleich alle Weiber der Welt als Wolfsweiber, Hexennaturen oder Teufels Marmorherzen. Erschütternd zu sehen, wie die Unfähigkeit des alternden Königs seine Situation zu erfassen, ihn langsam in die Verwirrung, in den Wahnsinn treibt. Grandios, wie Klaußner pendelt zwischen kurz aufblitzender Selbsterkenntnis und Selbstüberschätzung und wie er doch immer wieder zurückfällt in selbstzerstörerische Anmaßung und übertriebene Erwartungen an alle anderen. Es ist diese emotionale Instabilität, die den geistigen und psychischen Verfall unaufhaltsam fortschreiten und in der Katastrophe enden lässt. Titov findet für diese geistige Verwahrlosung ein eindringliches Bild. Hinter der brüchigen Palastwand breitet sich ein Gelände voller Müll aus heutiger Zeit aus: mittendrin eine Matratze, auf der die Tragödie ihr grotesk-tragisches Ende findet.

Unter laut aufbrausender Musik wechseln die Szenen. Im Inneren des Palastes treibt Edmund sein böses Spiel um die Macht. Mit Eheversprechen an beide (verheiratete!) Schwestern treibt er die beiden aufeinander los und letztlich in den Tod.

Edmund, der bei Shakespeare im Duell von seinem Halbbruder Edgar erstochen wird, überlebt bei Titov. In einer ostentativen Aktion entledigt er sich seiner Bediensteten-Kleidung, besteigt splitternackt den leerstehenden Thron und wiederholt den Eingangsmonolog des Königs. Der endet mit den irrwitzigen Worten: „Auf dass Unsere reichste Großmut/Dort trifft, wo zur Natur Verdienst ein Recht hat!“ Dann geht er raus, um Cordelia mit eigenen Händen zu ermorden.

Sein wiedergefundenes Kind betrauernd, stirbt der König an gebrochenem Herzen.

Shakespeare schrieb das Stück 1606 und siedelte es - wie seine Quellen aus dem 16. und 12. Jahrhundert - in der Antike an. Titov öffnet die Problematik mit dem eindrucksvollen Bühnenbild und Wechsel der Kostüme ins Heute.

Evgeny Titov schließt mit dem eindrucksvollen König Lear nach Macbeth und Richard III seine Shakespeare-Trilogie am Düsseldorfer Schauspielhaus ab. Dafür gab es begeisterten Applaus.