Viele Probleme und ein Mutmacher
Lauter kleine (und manchmal auch große) Familien-Dramen hat die irische Autorin Dawn King in ihrem Auftragswerk für das Schauspiel Essen ineinander verschränkt. Alles wie es sein soll vereint die Dramen zweier verschiedener Familien, die lange keine Berührungspunkte miteinander zu haben scheinen. Im wunderbaren Ambiente des Maschinenhauses der Zeche Carl hat Irina Schicketanz mit Hilfe von drei vor schwarzem Hintergrund platzierten, variabel beweglichen Rahmen aus Neonröhren und verschiedenen erhöhten Spiel-Ebenen einen Raum erschaffen, in dem die zahlreichen Szenen ohne großen Bühnenumbau fließend ineinander übergehen können. Immerhin spielen diese mal in der Küche, mal im Wohn- und mal im Jugendzimmer, mal draußen, mal auf dem Campingplatz und mal im Café. In zwei Familien, die auch noch zu verschiedenen Zeiten leben.
Dass die trotzdem miteinander zu tun haben, ahnt man natürlich. Wie, ist allerdings eine Überraschung, die man erst ganz am Ende begreift. Die Volte ist eine der Stärken des Stücks, in dem sich Stärken und Schwächen die Waage halten - Dawn Kings Best ist es nicht. Recht früh spürt man, dass die beiden Familien recht unterschiedlich ticken. Die einen haben die üblichen, vielleicht alltäglichen, nichtsdestoweniger handfesten Probleme einer Patchwork-Familie mit Pubi, die anderen haben vor allem ein ganz dickes Thema, das die Funktionsfähigkeit jeder Gemeinschaft mächtig auf die Probe stellen würde. Beide Familien bieten - zumindest in der Inszenierung von Adrian Figueroa - ihre Anchor Person für das Publikum. Bei der einen ist es Knut Kolckmann als grauenvoll pubertierender Ben, der außer mit seinem Handy mit niemandem spricht, ohne sofort einen Konflikt auszulösen. „Ich habe nicht darum gebeten, geboren zu werden“, ist der Kernsatz, der den gegen alles aufbegehrenden Pubi auch für den Zuschauer zum Sorgenkind macht. In der anderen Familie ist die Anchor Person Oma Hanna. Gespielt von Ines Krug, ist sie ist Anker in jeder Hinsicht: Sie ist empathische Ansprechpartnerin für ihre Enkelkinder, sie ist - da todkrank und noch voller Lebenswillen - Sorgenkind der Zuschauer, und sie ist, so wie sie ihren Mut und ihre Trauer, ihre Angst und ihre Zuversicht einfühlsam und ohne Emphase zur Schau stellt, schauspielerisch einfach brillant.
Hanna gehören auch die ersten Worte. Da kennen wir sie noch nicht, denn ihre Stimme kommt aus dem Off. Vom Weiterleben in toter Materie spricht sie, von abgestorbenen Bäumen, in denen Pilze wachsen sowie Schwämme, Insekten und Vögel wohnen. Das weist einerseits bereits voraus auf ihre Lebenssituation und ihren mutigen, versucht optimistischen Umgang damit, ist aber wohl, wie wir erst später erkennen, auch der Beginn einer Rede, die die intelligente Dame vor ihrem Tode noch auf einem Design-Symposium halten möchte: einer Rede über Living Tree Design-Wohnhäuser mit geschlossenem Wasserkreislauf für alle Schichten der Gesellschaft, was auch das Problem der Obdachlosen lösen würde. Klingt nach Zukunftsmusik? Isses auch. Wie auch der souveräne Umgang mit der Sterbehilfe: In der intensivsten Szene dieses Abends wird Per, Hannas permanent anwesender ärztlicher Begleiter, ihr beim Suizid assistieren. Ganz ruhig, aber ungeheuer charismatisch gibt Christopher Heisler diese Figur als eine Art Mischung aus Pfleger und Mediziner. Sachlich und unaufgeregt, aber mit unerschütterlicher Ehrlichkeit antwortet er auf Hannas bange Fragen - so wie es diese starke Frau verdient hat. Tochter Unda (Sabine Osthoff) dagegen hat mit Omas Entscheidung ihre Probleme.
Baumhäuser, Sterbebegleitung - dagegen klingen die Probleme von Familie 1 vordergründig prosaischer. So wie Mansur Ajang als so cholerischer wie überforderter Vater Leo bei jedem, aber auch jedem Aufeinandertreffen mit Ben explodiert, so verstockt wie Ben auf jeglichen Versöhnungsversuch und jede Annäherung reagiert, wirkt der pubertätstypische Vater-Sohn-Konflikt allzu schwarz-weiß dargestellt. Selbst Bens Freundin (falls man irgendjemanden aus Bens Bekanntenkreis mit einem so intimen Begriff bezeichnen darf) kommt trotz aller Bemühungen an den jungen Mann nicht ran. Ans Publikum schon: Nisha Hadodo, eine der fünf jungen Laien aus dem „Stadt-Ensemble“, die gemeinsam mit fünf Essener Ensemble-Mitgliedern die Aufführung stemmen, spielt die junge Schülerin erfrischend zwischen Widerstandsgeist, Unabhängigkeitsstreben und Bemühen um den verkapselten Freund. „Mein Leben wird auf jeden Fall fucking geil“, hält sie dem unglückstriefenden Ben einmal entgegen. Man wünscht es ihr von ganzem Herzen - ihr Schauspiel kann man schon mal so bezeichnen.
„Mutter hatte er keine“, schrieb eine Schulfreundin einst über Hauke Haien im Schimmelreiter, was unseren Deutschlehrer sehr erheiterte. Ben hat eine Stiefmutter, und die ist schwanger, was man ihm aber lange vorenthält. Denn Sarah hadert. „Haben wir das Recht, Leben zu erschaffen?“, jammert sie und steckt auch sonst voller Phobien, die sie bei der „Letzten Generation“ abgeguckt zu haben scheint. Ganz ehrlich? Den Rezensenten hat das genervt, denn Sarah ist ja keine 20 mehr. Aber Lene Dax gibt ihrer Figur im Laufe der 90 Minuten eine Entwicklung mit. Klüger als Leo, versucht sie zumindest eine Gesprächsebene mit Ben zu etablieren. Auch gelingt ihr eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihren Ängsten.
Soweit die Anker-Geschichten. Ein paar der nicht erwähnten Figuren machen ihre Sache auch prima: Betty (Carmelina Kissel), Undas Freundin, die im Café jobbt und davon träumt, irgendwann von ihrer Kunst leben zu können, oder die so unterschiedlichen Geschwister Osara (Roni Bellal) und Nico (Ecenaz Ökmen), die ähnliche Probleme wie Ben und Kati haben, aber bei Hanna stets auf offene Ohren treffen, seien noch genannt. Warum also der erwähnte Hinweis auf Schwächen des Stücks?
Dass es voller Klischees steckt, würde vermutlich kaum auffallen, wenn es nicht in den kurzen 90 Minuten sämtliche Risiko-Themen unseres ach so schwer zu durchlebenden Daseins zur Sprache brächte. Jedes einzelne wäre vielleicht ein Drama wert. Aber in einem erkennbar auch für ein jugendliches Publikum geschriebenen Stück innerhalb von eineinhalb Stunden neben den großen, dominierenden Themenkomplexen der Pubertät und der Sterbebegleitung die Probleme von Kapitalismus, Klimawandel, Verschwörungstheorien, bedingungslosem Grundeinkommen, Wohnraumbeschaffung, Resilienz, antiautoritärer Erziehung, Autokratie, Endzeitgesellschaft und alternativen Wegen zum Glück unterbringen zu wollen, ist ein bisschen reichlich. Für die Schule mag das Stück Diskussionsthemen anbieten, bis dass die Seiten einzeln aus dem Buch fliegen. Aber eine differenzierte literarische Behandlung bleibt da natürlich auf der Strecke.
Adrian Figueroas Inszenierung ist erfreulich leise und einfühlsam mit der Sterbeszene als zu Herzen gehender Klimax, aber in anderen Momenten auch ein wenig betulich. Dawn King, das ist der Inszenierung anzumerken, möchte niemandem weh tun. Wunderbar optimistisch ist daher auch das Ende des Stücks. „Die Welt geht unter“, heißt es da. Und quasi aus dem Jenseits bestätigt Hanna: „Das tut sie. Aber eine neue wird geboren.“ In diesem harmlosen Satz steckt übrigens auch das Geheimnis, wie die beiden Familien zusammenhängen…