Risse in den Ecken einer Dystopie
Mitten auf der Bühne steht ein mächtiger Block, an dem eine Treppe auf eine Terrasse führt. Das ist die eine Seite, wird er gedreht, schaut man in einen hermetisch-kahlen Raum, dessen Zentrum ein absurd-silbriger Baumstumpf beherrscht mit einer großen Öffnung - einem aufgerissenen Maul gleich - und einigen zufällig auf die grobe Rinde verteilten, völlig irrealen großen Blättern. Auf der Bühnenrückwand flirren skurrile Zeichen, zwischendurch auch mal ein riesig-aufgerissenes Auge.
Auf der sonst leeren dunklen Bühne gibt’s noch einen spirrigen Tisch mit zwei Stühlen, an dem das kafkaeske Spiel beginnt.
Wir befinden uns in der „nicht allzu fernen Zukunft“, im Verhör-Raum der Einheit A eines diktatorischen Staatswesens, genannt „Union“. Im Auftrag der „Zentraleinheit für die Herstellung und Aufrechterhaltung von Ordnung und Moral“ hat die untergeordnete Mitarbeiterin Norest eine junge Frau auf ihre Ungefährlichkeit zu überprüfen. Vom Scheitel bis zur Sohle in Grau-Schwarz gehüllt, beginnt sie ihr Verhör mit starrer Mine, roboterhaft funktionierend mit vorgestanzten Fragen und Unterstellungen. Die junge Frau mit Namen Kundai Anderson - fesch in Jeans und Lederjacke wie aus einer anderen Welt - die behauptet, nur hier zu sein, um sich einen Stempel unter einen Antrag geben zu lassen, die gar nicht zu verstehen scheint, wessen sie beschuldigt wird, hat keine Chance gegen das System.
Der Block dreht sich, eine surreale Gegenwelt tut sich auf: Kundai ist in eine Zelle gesperrt und trifft hier auf die Dauergefangene Haupt Sekai und deren ganz eigene Geisterwelt. Unschuldig eingesperrt, glaubt die sich verantwortlich für die Geister all der hier bereits Verstorbenen, von denen sie sich in einer ganz eigenen fantastischen Realität umgeben wähnt, denen sie Namen gibt, mit denen sie redet, die auch mit ihr reden und die sie so letztlich am Leben erhalten. Da sieht die „Alte“, wie sie böswillig von ihren Folterinnen genannt wird, „Risse in der Zellenwand“, Risse in den Unionswänden, im hermetischen System, aus denen sie „Sachen holt“, die sie und ihre Geister zum Leben brauchen.
Ergreifend irreale Szenen, deren menschlicher Wirkung sich auch die nüchterne Kundai - die ohnehin im Stück eine geheime Doppelexistenz führt, von der wir erst viel später erfahren - nicht entziehen kann. In manchen Momenten kann auch sie nicht umhin, „sich in den Rissen der Unionswände zu verstecken“. Die Intensität dieser Parallelwelt inmitten eines menschenverachtenden Systems ist zweifellos der afrikanischen Seele der Autorin Zaza Muchemwa geschuldet. Die in ihrer Heimat Simbabwe gefeierte Theatermacherin, die das Stück selbst in Szene setzte, verweist im Programmheft ausdrücklich auf die Nähe zu den Toten in ihrer heimatlichen Kultur und gesteht, dass auch sie daran glaubt, „dass die Menschen, die nicht mehr auf der selben physischen Ebene wie wir existieren, uns umgeben“.
Der Block dreht sich wieder, die zynischen Verhöre gehen weiter, die Weiße Folter wird immer destruktiver. Doch auch auf dieser Seite des Geschehens gibt es inzwischen „Risse in allen Ecken der Unionswände“, wenn sich zwischen den Verhören - bei denen Norest stets im Geheimen von der vorgesetzten Kommissarin Innom beobachtet wird - die scheinbar so unerschütterlichen Unioninnen plötzlich stöhnend am Boden wälzen und in irren Monologen die Namen ihrer Opfer aufrufen.
Nach der nächsten Drehung verabschiedet sich Haupt Sekai von ihren Geistern, sie glaubt in Kundai eine verlässliche Nachfolgerin als Hüterin gefunden zu haben, deren es dringend bedarf, da alles „ansonsten der Tyrannei anheimfalle“.
Eine letzte Drehung: Kundai Anderson steigt aus der Sträflingskleidung und holt aus einem Schrank in der Treppenwand einen eleganten schwarzen Unions-Anzug. Sie ist die Chefin. Das Ganze ein böses Spiel. Die Rollen werden getauscht. Es ging darum, die Arbeit von Norest zu kontrollieren. Norest und die Kommissarin Innom werden degradiert: die Risse haben ihre Wirkung getan.
Im Interview berichtet Zaza Muchemwa, dass das Stück aus Angst und Schrecken nach einer entwürdigenden eigenen Erfahrung mit der heimischen Bürokratie entstand. Dennoch will sie keine Horrorgeschichte erzählen, vielmehr spürt sie der Frage nach, ob nicht in jedem dieser „Roboter“ doch ein Mensch steckt. Ob nicht hinter den herrschenden Yang-Elementen von Kontrolle, Ordnung und Gewalt doch noch eine Spur von einem Utopyin im Sinne von Ursula K. Le Guins „Utopyin, Utopyang“ stecken kann. So reiht sie Das vierte Verhör nicht ein in die lange Reihe der Dystopien seit Mary Shelley sie 1826 eröffnete, sondern versucht ihre Figuren zu „vermenschlichen“, indem sie ihnen „Gesichter und Namen“ gibt. Ich ergänze: indem sie die Ambivalenz von Menschen und Systemen zulässt.
Das alles bringen die vier Künstlerinnen in Mönchengladbach grandios auf die Bühne: Marie Eick-Kerssenbrock als scheinbar naive, temperamentvolle Kundai Anderson, Helene Gossmann als zynische Kommissarin Innom und Esther Keil bravourös in der Doppelrolle als Norest und Haupt Sekai. Selten war eine Doppelrolle so sinnreich. Sie verkörpert - wie auch das kluge Bühnenbild - die von Muchemwa erhoffte Dualität des Systems und seiner Vertreter, zeigt letztendlich ein Bild des Menschen in seiner Ambivalenz.