Una storia sbagliata
An der Rampe, quer zum Zuschauerraum des Theaters an der Ruhr, liegt ein mit Steinen beschwertes, unordentlich gerafftes weißes Laken. Es symbolisiert in Roberto Ciullis Uraufführung Pasolini. Io so - Mitteilungen an die Zukunft das Tuch, mit dem die Leiche des italienischen Filmemachers, Lyrikers und politischen Aktivisten Pier Paolo Pasolini bedeckt wurde - damals, am 2. November 1975, am Strand von Ostia. - Am Strand? Ach, das klingt allzu euphemistisch. Fotos werden an die Wand geworfen und zeigen: Eine schäbige Brachlandschaft war der Schauplatz des Mordes, wo der Regisseur den Ermittlungen zufolge von seinem eigenen Auto überfahren wurde. Was hatte Pasolini dort zu suchen? Suchte er schwulen Sex, wie es die Behörden nahelegten? Oder wurde er aus anderen Gründen in diese miese Gegend gelockt? Wie glaubhaft waren die polizeilichen Ermittlungen?
Der Stricher Pino Pelosi gestand die Tat. Er sei auf der Flucht vor den von Pasolini geforderten inakzeptablen Sexualpraktiken gewesen, soll er behauptet haben. Dabei habe er Pasolini versehentlich überfahren. Schlimm zugerichtet war die Leiche. Neunmal sei er überrollt worden, heißt es einmal. Sehen so Versehen aus? - Reifenspuren wies die Leiche nicht auf. Dreißig Jahre nach der Tat widerrief Pelosi sein Geständnis. Mal behauptete er, Unbekannte hätten den Filmemacher getötet, mal will er im Auftrag von verschiedenen, nicht namentlich genannten Personen gehandelt haben. Der Widerruf erfolgte wohl, als sämtliche Mitwirkenden an dem Mord verstorben waren und Pelosi keine Rache mehr fürchten musste.
Die folgte bei sogenannten Verrätern nämlich schnell. 1962 war das Flugzeug von Enrico Mattei, dem sich nicht immer sauberer Methoden bedienenden kommunistischen Chef der italienischen Energie-Behörde Eni, aus ungeklärter Ursache abgestürzt. Mattei war auf dem Kriegspfad gegen die multinationalen Ölgesellschaften. Der - eher kleine - italienische Tankstellenbetreiber Agip war Teil des von Mattei geleiteten Imperiums. So war es Mattei ein Anliegen, das Oligopol der großen Ölkonzerne zu brechen. Binnen kurzer Zeit nach dem - als Unfall deklarierten - Flugzeugabsturz starben fast alle mit dem Fall befassten Polizeibeamten und mehrere selbst ernannte investigative Rechercheure eines unnatürlichen Todes: Einer dieser Rechercheure war - Pasolini. Der arbeitete zum Zeitpunkt seines Todes an dem Roman Petrolio. Dessen 21. Kapitel, in dem Details zum Eni-Mord vermutet werden, ist bis heute verschwunden. „Ich weiß“ - „Io so“ heißt der erste Teil des Titels von Roberto Ciullis Text-Collage. Pasolini wusste wohl nicht nur manches über den Mattei-Mord. „Io so“ war auch der Titel eines Texts im Corriere della Sera, in dem Pasolini behauptete, auch die Hintermänner der rechtsradikalen Anschläge von Mailand 1969 und Brescia 1974 zu kennen, aber noch über keinerlei Beweise zu verfügen. - Wie ein Lehrer diktiert Bernhard Glose den an Grundschul-Tischen und -Stühlen sitzenden Mülheimer Schauspielerinnen und Schauspielern diesen aufrüttelnden, intensiven Text in ihre Hefte. Und die - schlafen ein, wie es wohl die Ermittler bei der Untersuchung der Todesfälle von Pasolini und Mattei taten.
In der ersten halben Stunde seiner Uraufführung fasst Ciulli die genannten Fakten im Stile des Dokumentartheaters zusammen. Anders als die ebenfalls ausführlich zitierte Boulevard-Presse, in der sogar die Nachrufe von Ressentiments gegen den angeblichen Nestbeschmutzer geprägt sind, vermeiden Ciulli und seine Schauspieler jeden Anschein von Sensationslust. Fünf Schauspielerinnen und Schauspieler sitzen auf Stühlen frontal zum Publikum, lauschen den Nachrichten von Pasolinis Todestag, berichten und zitieren aus Original-Dokumenten bis hin zu der „Lettera a Pier Paolo“ der italienischen Star-Journalistin Oriana Fallaci, einem wütenden, sich dann zu einer empathischen Liebeserklärung wandelnden Brief. Bei dem einen oder der anderen klingt das ein wenig manieriert, wie man das vom Theater an der Ruhr kennt, aber die fesselnde Intensität, mit der das nur sparsam sich bewegende Ensemble agiert, erinnert an den Stil der italienischen Gruppe ANAGOOR, die bereits mit mehreren Aufführungen im Theater an der Ruhr überzeugt hat. Die Mord-Geschichte jedenfalls ist eine wahre Räuber-Pistole, wie gemalt für einen spannenden Polit- und Mafia-Thriller.
Ciulli aber wendet sich nach einer guten halben Stunde vom Dokumentartheater ab. Ein Poem des italienischen Liedermachers Fabrizio di André leitet diesen im Stil so ganz anderen Teil des Abends ein: „Una storia sbagliata“ heißt des Sängers Hymne an seinen widerspenstigen Künstler-Kollegen: „eine falsche Geschichte“. In der Tat: Falsch ist, was die Behörden über den Mord verbreiten, falsch fühlt sich an, wie die Medien mit dem Fall umgehen, und erst recht falsch ist es, wie hier ein unbequemer investigativer Aktivist und ein im Italien der frühen 1970er noch extrem polarisierender Homosexueller einfach ausgelöscht wird. „Una storia sbagliata“ wird auf eine „storia per perrucchieri“, eine Geschichte für die Friseursalons, reduziert, und sie hat doch so viel politische Sprengkraft. Der Theaterabend aber wird zu einem großartigen Requiem für einen Rebellen und zu einer Hommage an einen vielseitigen Künstler, einen höchst sensiblen Menschen und einen politischen Visionär.
Profanes wird zitiert - wie Pasolinis Leidenschaft für das Fußballspiel (bei dem er übrigens im Kindesalter erstmals seine homosexuellen Neigungen entdeckte). Ausführlich wird aus Pasolinis wunderbar zartem und melancholischem lyrischen Werk vorgetragen. Sein Leiden an seiner Heimat, an seinem Land kommt in seinen publizistischen Arbeiten zum Ausdruck. Sein wiederkehrender Kampf mit dem italienischen Faschismus, den er auch einmal mit dem deutschen zur Nazizeit vergleicht, ruft beim politisch engagierten Zuschauer bisweilen Reminiszenzen an Giorgia Meloni oder Matteo Salvini auf: Wie würde die aktuelle italienische Regierung auf den linken Rebellen und Homosexuellen Pasolini reagieren, triebe er heute noch sein Wesen? Ausschnitte aus Pasolinis „Totenklage“ über die Glühwürmchen kommen zu Gehör - mit dem berühmten Zitat des antikapitalistischen Aktivisten: „Ich gäbe, auch wenn er ein Multi ist, den ganzen Montedison-Konzern für ein Glühwürmchen." Das Verschwinden der Glühwürmchen betrachtet er als Zäsur: Die Zeit davor bezeichnet er als den „faschistischen Faschismus“, die Zeit danach als kapitalistischen Faschismus, den er noch vehementer abzulehnen scheint. Die Industrialisierung Italiens und die daraus resultierende Konsumgesellschaft bezeichnet er polemisch als Völkermord.
Selbstverständlich zielt eine solche Kritik auch auf unsere heutige Zeit. Mitteilungen an die Zukunft heißt der zweite Teil des Titels der Mülheimer Aufführung. In der Collage von Pasolini-Texten finden sich Warnungen vor der Klimakatastrophe; Pasolini sieht Flüchtlingsströme aus Arabien ebenso voraus wie Radikalisierungstendenzen in der Politik. Das sind Aussagen von visionärer Kraft. Doch auch der Blick zurück, der Halt, den ihm - trotz der oft kritisierten Organisation der Kirche - die Religion gab, findet ihren Platz. Mohammad Saado Kharouf wandelt als Engel über die Bühne, an deren Rückwand ein großes Fresko mit einem Christus mit Dornenkrone und Leintuch entsteht (Pasolini war auch als Maler und Restaurator tätig). Zweimal hat Stargast Eva Mattes einen Auftritt. Sie gibt Pier Paolos geliebte Mutter, angetan mit einem langen schwarzen Kleid und Kopftuch, wirkend wie eine Mischung aus Mutter Maria und einer alten Frau aus dem einfachen Volk, dem sich Pasolini stets so zugehörig fühlte. Und aus dem sein Auftragsmörder entstammte…
Clowneske Totengräber bemächtigen sich irgendwann Pasolinis Leichentuch, das nach wie vor an der Rampe ausgebreitet liegt. Sie tanzen, sie halten das Tuch wie das Sprungtuch einer rettenden Feuerwehr - und dann wird es zu einer Tischdecke auf einem langen Tisch vor dem halbfertigen christlichen Fresko. Die Mutter und alle anderen versammeln sich am Tisch wie bei Leonardo da Vincis Abendmahl. Eine gewisse Todessehnsucht hatten die zitierten Texte Pasolinis erkennen lassen. Aber die Schauspieler feiern und lachen - die Mutter mittendrin. „Das bisschen Kraft, das mich am Leben erhält, kommt von dir“, hatte der sanfte Rebell der Mutter zuvor gestanden.