Kommt der Verteidigungsplan zu spät?
„Das Schönste an meinem Bau ist aber seine Stille.“ Immer wieder taucht dieser Satz auf in Ulrich Grebs Inszenierung von Kafkas Der Bau am Schlosstheater Moers. Dann halten die meist rastlos sich bewegenden Bewohner von Birgit Angeles Bühnen-Bau inne und lauschen. Ein leises Knacken ertönt (bei Kafka ist von einem „Zischen“ die Rede), Musik wie aus einem uralten knisternden Radioempfänger erklingt, und man spürt die Beunruhigung, die sich der Lebewesen im Bau bemächtigt. Irgendwann einmal ist es im Anschluss an diesen Satz tatsächlich still. Nach den vorherigen Erfahrungen wirkt plötzlich auch das beunruhigend. Und irgendwann einmal schreien die vier Darsteller den Satz chorisch hinaus, trotzig, vielleicht auch ängstlich, laut dazu mit den Füßen stampfend. „Das Schönste an meinem Bau ist die Stille!“ Ist die Stille trügerisch? Oder ist der Bewohner paranoid?
Einen schönen, kunstvollen Bau hat sich Kafkas Tier erschaffen; stolz präsentiert es ihn den anonymen Lesern oder Zuschauern. Dabei ist die Motivation für den Bau ein zunehmend paranoid erscheinender Verfolgungswahn. Alles Fremde (und jeder Fremde!) wird mit Misstrauen oder gar Feindseligkeit betrachtet. Konkurrenten - seien es die aus der eigenen Spezies oder die Feinde anderer Herkunft und Lebensform - könnten dem Bauherrn die Vorräte wegnehmen, könnten ihn um seinen Reichtum bringen oder auch um sein Leben. Verbündete kennt er nicht. Das Leben - zumindest in der Außenwelt - besteht für ihn aus einem permanenten „Vernichtungskampf“. So baut er denn - mit falschen Eingängen, toten Gängen, labyrinthischen Strukturen. Baut immer tiefer bis dahin, wo die Nahrungssuche schwierig wird, vielleicht unmöglich gar. „Manche List ist so fein, dass sie sich selbst umbringt“, erkennt der Bauherr - mutmaßlich ein Dachs - schon früh.
Ulrich Greb erweitert die Perspektive von Kafka und seinem Dachs in vielfacher Hinsicht. Die Erzählung, die ohne jeden textlichen Eingriff perfekt als Monologstück im Theater funktioniert, bringt Greb mit gleich vier Personen auf die Bühne. In hässliche Fatsuits gezwängt, mit Fellresten und Flecken menschlicher Körperbehaarung beklebt und in Pelzmäntel gehüllt, strecken sie einem ihre unförmigen Ärsche entgegen. Sie geben grunzende, krächzende rachitische Laute von sich und schnüffeln animalisch aneinander herum. Und doch tragen alle Stöckelschuhe, gelegentlich auch Schmuck wie für eine Abendgarderobe. Denn natürlich hat Kafka seinen Text als Parabel geschrieben.
Bühnenbildnerin Birgit Angele, die auch für die monströsen Kostüme zuständig ist, hat den Bau als einen Kubus aus silbrig flimmernden Kunststoff-Lamellen erschaffen, zwischen denen Matthias Heße, Leonardo Lukanow, Ludwig Michael und Marisa Möller hin- und herwuseln. Innerhalb dieses Raums sind die Spielenden zwar nur unscharf zu erkennen, dafür aber häufig doppelt: eine Handkamera sowie eine fest installierte Deckenkamera fangen die Gesichter der Schauspieler in schwarz-weißen Großaufnahmen ein (allein die Bedienung der Handkamera bei gleichzeitigem „animalischem“ Spiel erfordert von den Akteuren bemerkenswerte akrobatische Fähigkeiten.) Ab und zu wagen sich die Erd-Eremiten aus diesem Bau heraus, um Kraft zu schöpfen, nahrhafteres Futter zu suchen, das Publikum zu beschnüffeln (wobei Mathias Heße aus seinem Dachs einen großartigen Maulwurf zu machen versteht). Wenn dann darüber sinniert wird, dass es Feinde nicht nur außerhalb des Baus gibt, sondern auch im Inneren der Erde, fragt man sich automatisch, ob die größten Feinde in diesem Fall nicht sogar im Inneren des sich mehr und mehr isolierenden Lebewesens liegen, in seiner Psyche, in seinem Verfolgungswahn.
Soweit ist das alles original Kafka, fantasievoll ausgestattet. Greb bleibt bei Kafkas Text, der düster genug ist. Aber es ist eine Art weicher, psychischer Düsternis, die aus Kafkas Text spricht, eine übersteigerte Angst vor dem Egoismus einer unsolidarischen, feindlichen Außenwelt. Bei Greb bekommt die Düsternis Härte. Sein Ich-Erzähler zeigt deutliche Anzeichen einer dissozialen Persönlichkeitsstörung. Angst und Isolation führen nicht nur zu Gier und Paranoia, sondern zu aggressivem Narzissmus. Man geht auf Kriegspfad. Die Stöckelschuhe haben nichts Weiches oder Feminines, sondern sie fungieren als Marsch-Stiefel. Alessia Ruffolo hat für die Aufführung eine Choreographie geschrieben, die soldatische, militaristische Anklänge hat. Undefiniert ist die Beziehung der vier Figuren zueinander. Sie können bisweilen wie ein homogener Körper agieren, wie ein dem gleichen Ziel verschriebenes Heer. Einmal gehen die vier Akteure nach erfolgtem Feldzug aufeinander zu und reichen einander die Hände, wie Menschen nach einer im Kampf oder auch in einer Verhandlung bestandenen Auseinandersetzung. Da ist schon nicht mehr sicher, ob es sich um eine gegenseitige Gratulation handelt oder um das Besiegeln eines Waffenstillstands. In einer der seltenen Ruhephasen sitzen die Akteure scheinbar harmonisch auf den Bäumen und schaukeln im Wind. Vertrauen aber funktioniert für den Sicherheitsfanatiker nur bei hundertprozentiger Kontrolle. Also gar nicht…
Gibt es kein Vertrauen, so geht es um Dominanzstreben. Dann wird nicht gemeinsam in den Kampf gezogen, sondern übereinander hergefallen - oft scheinbar ziellos und zufällig, bisweilen aber blutig. Koalitionsfähig sind diese Akteure nicht. Stattdessen beißen sie einander schon mal mit letaler Konsequenz aus dem Rennen; die blutigen Fleischmassen der vertilgten Beute hinterlassen ihre Spuren im Gesicht und an den Kostümen. Wenn der immer irrer zu werdende Ich-Erzähler davon schwadroniert, dass er nur in seinem Bau vom „Feind auch die tödliche Verwundung annehmen kann, denn mein Blut versickert hier in meinem Boden und geht nicht verloren“, dann glaubt man, in dieser Mitte der 1920er Jahre entstandenen Erzählung schon eine Warnung vor der nationalsozialistischen Blut- und Boden-Ideologie zu finden. Ein militärischer Chor steigert sich ins Hyperaggressive. Grebs Inszenierung erreicht eine deutlich höhere Eskalationsstufe als andere Inszenierungen des Kafka-Texts.
Der Konflikt zwischen berechtigtem Sicherheitsbedürfnis und paranoider Angst erscheint hochaktuell. Die irrlichternden, narzisstischen Gedanken, die Grebs Inszenierung (ohne den Kafka-Text zu verlassen) hervorhebt, führen die Gedanken des Zuschauers von der Ideologie der Nazis zur Autokratie und zum Triumphgeheul eines Donald Trump. Eine knappe Woche vor der Moerser Premiere hat der die Solidarität mit der westlichen Welt aufgekündigt und ein seit fast 80 Jahren festgefügtes Bündnis zerschlagen. Dunkle Schatten tanzen und stampfen, die Dachse ziehen sich Masken über; selbst an den Ku-Klux-Klan mag man denken. Alptraumhafte Bilder von irrationaler Angst, von übermächtigen Diktatoren, von pathologischem Machtstreben evoziert die Inszenierung nun. „Was jetzt zu tun wäre“, sagt Marisa Möller, „ist, einen Verteidigungsplan auszuarbeiten.“ Und Ludwig Michael antwortet: „Zu spät.“ Es wäre „die notwendige Arbeit“. Drei Männer marschieren, unerbittlich. „Einen solchen Gegner habe ich nicht erwarten können“, heißt es. Und: „Warum wurde ich so lange geschützt, um jetzt geschreckt zu werden? … leichtsinnig wie ein Kind bin ich gewesen … selbst mit den Gedanken an die Gefahren habe ich nur gespielt.“
Bevor zum Abschluss ein wenig überflüssig ein Kind aus einem Brief Kafkas zitiert, mag ein letzter Satz ein wenig zartbittere Hoffnung ausdrücken: „In meinem Erdhaufen darf ich von allem träumen. Auch von Verständigung, trotzdem ich genau weiß, dass es etwas derartiges nicht gibt.“ - Das ist alles Original Kafka, 1923-24. Ach, Europa…