Übrigens …

Paradise im Theater Münster

Schuldlos schuldig?

Auf einer griechischen Insel haben sich Flüchtlinge niedergelassen. Sie vereint das Schicksal der Vertreibung, das sie unisono beklagen. Ebenso uniform ist ihre Kleidung: Orangefarbene Schleiergewänder erinnern an buddhistische Nonnen. Dazu passend wohnt ihnen trotz der Bürde ihrer Flucht ein gehöriges Maß an Gelassenheit inne und es gibt Momente der Freude und des Lachens. Trotz Angst und Ungewissheit versuchen die Frauen dem Leben positive Aspekte abzugewinnen. Davon ist der Bewohner einer Höhle auf der Insel weit entfernt: Philoktet hat längst alle Hoffnung verloren, den Ort jemals verlassen zu können. Ihn hatten seine Waffenbrüder auf dem Weg nach Troia dort ausgesetzt, weil ihnen der Gestank seiner nicht heilenden Wunde und seine Schmerzensschreie nur noch lästig waren. Nur seinen Bogen hatten sie ihm gelassen.

Kae Tempest verbindet Sophokles' Philoktetes mit dem Schicksal heutiger Flüchtlinge, attestiert Gemeinsamkeiten, lässt aber viel vom griechischen Drama übrig. Denn auf der Insel wird es voller. Vom Schlachtfeld vor Troia sind Odysseus und der junge Neoptolemus gekommen. Ihnen war geweissagt worden, dass der Krieg nicht ohne den Bogen des Philoktetes zu gewinnen wäre. Odysseus, der ihn auf die Insel brachte, weiß, dass der Bogen ihm nie ausgehändigt werden würde und hat deshalb Neoptolemus als Köder mitgebracht. Der erkennt die Falle zu spät, in die er getappt ist und wird zum tragischen Helden.

Mit Odysseus aber ist der Krieg auf die Insel gekommen. Der ist völlig verroht und hat bedingungslos sein Verhalten der Kampfeslogik? unterworfen: Agnes Lampkin lässt nicht nur verbal die Muskeln spielen. Katharina Brenners Philoktetes jammert und klagt zum Steinerweichen. Fast kann man die verstehen, die ihn einst aussetzten. Das ist wirklich kaum zu ertragen. Doch übersieht er trotz allen Lamentierens die Chance zur Rache nicht und verletzt Odysseus mit einem Schuss in den Fuß. Dann löst sich recht schnell alles auf: Neoptolemus, den Nadine Quittner anrührend flatternd wie einen Vogel im Käfig gibt, startet mit Philokletes wahrscheinlich gen Troia, einige Frauen schließen sich an, andere wollen die Insel zu ihrer Heimat machen. Und Odysseus bezieht mit einer ähnlichen Wunde die Höhle, die frei geworden ist.

Lily Sykes inszeniert mit großer Übersicht und hat stets alle Agierenden im Blick - sinnfreie, bloße Anwesenheit gibt es bei ihr nicht. Und auch der Humor kommt nicht zu kurz. So ein Augenzwinkern ab und an kann doch sehr entspannend sein. Das beweist der Chor der Frauen ein um das andere Mal.

Wird die Insel denn nun zum Paradise? Das bleibt offen, denn es könnte sein, dass in der Höhle der Krieg nur Winterschlaf macht.