Hetze aus dem Ohrensessel
Auf meinen früheren Dienstreisen nach Wien gaben mir die Kolleginnen und Kollegen stets das Gefühl, ein gern gesehener Gast zu sein. Sie gaben sich aufgeschlossen, lobten das Interesse des aus dem Head Office angereisten Gesprächspartners und gestalteten die reinste Wohlfühl-Atmosphäre. Irgendwann realisierte ich, dass, kaum hatte ich das Gebäude verlassen, mächtig über mich, meine Arbeit und meine unmöglichen Ansichten gelästert wurde. Der Wiener Schmäh und die Wiener Lust am Maulzerfetzen können ganz schön bösartig sein, dachte ich in meinem Ohrensessel, als ich von Nicholas Ofczareks Performance im Schauspielhaus Bochum zurückgekehrt war.
Keiner kannte und konnte Schmäh und Maulzerfetzen besser als Thomas Bernhard, der „Virtuose der pointierten Gemeinheiten“, wie die Badischen Neuen Nachrichten ihn einmal nannten. Mit seinen Tiraden gegen Österreich, Wien und insbesondere die Wiener löste er in der Alpenrepublik Skandale, Hass und Wut aus. Die meisten Piefkes liebten ihn. Sein Roman Holzfällen wurde, kaum erschienen, erstmal für ein halbes Jahr gerichtlich beschlagnahmt. Herr und Frau Lampersberg, Komponist und Sängerin ihres Zeichens, hatten sich in dem von Bernhard maliziös und giftspritzend beschriebenen Ehepaar Auersberger wiedererkannt und fanden das justiziabel. Jaja, solche Maxim-Biller-Esra-Fälle oder - ganz aktuell - Schlammschlachten wie die niedergeschlagene Klage des Galeristen Johann König gegen Christoph Peters‘ Roman „Innerstädtischer Tod“ gab es schon 1984. Mancher wird halt nicht schlau: Die Kläger vergisst man nämlich nicht, und wenn sie nicht genannt werden, dann googelt man so lange, bis man die Namen rausbekommen hat. Und die Bücher: kauft man schnell, bevor sie irgendwann doch verboten werden. Klagen wirken für den Beklagten verkaufsfördernd. Dachte ich in meinem Ohrensessel.
In einem solchen sitzt der Ich-Erzähler anlässlich des „künstlerischen Abendessens“ bei der Familie Auersberger. Die Auersbergers, die ihn einst gefördert haben, kann er nicht ausstehen. Ihre kurzfristig erfolgte Einladung wollte er eigentlich ablehnen. Doch nun sitzt er inmitten der sich fein dünkenden Gesellschaft und lässt das säuselnde und nichtssagende Gewäsch und den Wiener Schmäh über sich ergehen, bis die Party weit nach Mitternacht wegen ausschweifenden Alkoholkonsums ausartet. Ofczarek erzählt, was seine Figur so denkt in ihrem Ohrensessel. Die Formulierung ist ein Running Gag in seiner Performance (oder szenischer Lesung oder einfach nur „Lesung“). Dabei sitzt Ofczarek auf einem einfachen Holzstuhl - und zwar inmitten eines zehnköpfigen Orchesters mit zahlreichen Blasinstrumenten, aber auch Harfe, Violine und Akkordeon. Die international renommierte Musicbanda Franui aus Tirol spielt zu Bernhards Tiraden, wofür sie berühmt geworden ist: Trauermusik von Robert Schumann und Béla Bartók, von Mozart, Lehár, Brahms, Purcell und anderen. So wird das „künstlerische Abendessen“ im Musikzimmer dem Anlass angemessen auch akustisch zum Trauermahl, was optimal passt. Denn: Joana ist tot - eine Freundin der Familie, eine Freundin vieler der Gäste. Am Nachmittag war im Dorfe Kilb ihre Beisetzung erfolgt. Joana hat ihr Leiden an Österreich wohl nicht so herausschreien können wie Thomas Bernhard: Joana hat sich aufgehängt.
Was dem Genuss von edlem Wein und lukullischen Spezialitäten keinen Abbruch tut, aber den Wien-Hass des Erzählers durchaus kreativ befeuert. Immerhin hat er Joana wohl mal geliebt. Aber dann brechen „die jungen Leute… auf in die Hauptstadt und verunglücken im wahrsten Sinne des Wortes da, wo sie sich alles erhofft hatten, an der Widerwärtigkeit der Gesellschaft, an der Rücksichtslosigkeit der Gesellschaft, an der eigenen Natur, die der menschenfressenden Großstadt Wien meistens nicht gewachsen ist.“ Dachte er in seinem Ohrensessel. Und denkt noch viel mehr, als mit großer Verspätung der sehnsüchtig erwartete Stargast des Auersberger’schen Künstlerabends eintrifft: der Burgschauspieler, nach allgemeiner und vor allem eigener Ansicht der Virtuose der pointierten Wildente - der Ibsen’schen, versteht sich. Ofczarek, der Burgschauspieler, erregt sich nun über die Burgschauspieler, über diesen von Auersbergers hofierten „dramatischen Schreihals“, den er als Tischnachbarn hat, über den Dilettantismus und künstlerischen Bankrott des renommierten Theaters, das inzwischen zu einer „Schreianstalt der absoluten Gehirnlosigkeit“ geworden ist. - Ja, das bösartige Maulzerfetzen, die arrogante Hybris, die Misanthropie - all das haben Bernhard und seine Figuren gemeinsam, die Auersbergers, der geltungssüchtige, mutmaßlich ebenfalls entschlüsselbare Burgschauspieler - und der Ich-Erzähler, der in diesem Fall ja einer der renommiertesten Burgschauspieler der Gegenwart ist. Das ist zum Schreien komisch - nein, eher zum schadenfrohen Glucksen, und es ist Balsam für die Seele des Zuschauers, die sonst doch immer in das Korsett einer guten Erziehung gezwängt ist, Balsam für die Seele des Rezensenten, der sonst doch selbst die größten Zumutungen des Theaters mit wohl gewählten, nachsichtigen Worten beschreibt.
Viele im Theaterpublikum dürften auch so eine Art Auersbergers sein, dachte der Rezensent zu Hause in seinem Ohrensessel. Sie glauben sich kunstsinnig und lieben das konventionelle, rückwärtsgewandte Spiel, wie es die alten Burgschauspiel-Helden früher praktizierten, sie geben „künstlerische Abendessen“ und laden Schauspieler ein, was letztlich nur ihrem eigenen Ego schmeichelt und den eingeladenen Künstlern lästig ist. Wie der Sparkassen-Filialleiter bei jedem Schützenfest und jeder Brunnen-Einweihung gute Miene zum bösen Spiel machen muss, bedienen halt auch die eingeladenen Künstler die Erwartungen ihrer Kunden. Das Bochumer Publikum jedenfalls lacht fröhlich über sein eigenes Portrait: Ganz häufig geht das Saallicht an und bedeutet uns: Ja, Ihr seid gemeint, Ihr Möchtegern-Mäzene, Ihr Amateur-Experten. Je länger die beiden Abende dauern (also der Bochumer und der Auersberger‘sche), desto ironischer kommentiert auch die Musik. Kongenial klingt das, als die armen Gäste die Mitternachtssuppe auslöffeln müssen. Der aufgeblasene Auersberger ist irgendwann total besoffen, Ofczarek löst mit seinem spitzzüngigen Hohn und Spott über die gehobene Gesellschaft heiteres Gekicher im Publikum aus, der namenlose Burgschauspieler zieht von oben herab über seine genialen Kollegen her, die sich wie die Joana umgebracht haben, und Frau Auersberger legt noch den „Bolero“ auf. Frühmorgens erst ist die Party zu Ende. Wenn der Ich-Erzähler sich dann mit herzlichsten Worten bei der Gastgeberin für den außergewöhnlich schönen Abend bedankt, dann glucksen und kichern wir nicht mehr, dann bricht sich das Vergnügen in dezibelstarkem Prusten Bahn.
Nicholas Ofczarek hat zwei- oder dreimal an diesem Abend seine dicke, fast schon entstellende Hornbrille abgenommen und ins Publikum geschaut. Dann meint er sich selbst - und sicher auch uns. So sind wir halt. Ein bisschen heuchlerisch, ein bisschen eitel, und manche von uns schmücken sich gern mit fremden Promis. Die Lampersbergs - die übrigens, das sei zu ihrer Ehrenrettung gesagt, keineswegs aufs Konventionelle und Rückwärtsgewandte standen und viele Künstlerinnen und Künstler großzügig unterstützten - haben immerhin noch einen Wikipedia-Eintrag. Einen ziemlich kurzen, aber der Hinweis auf die Auersbergers aus Holzfällen fehlt natürlich nicht. Ihr eigenes Werk ist weitgehend vergessen.