Chronik des Niedergangs eines närrischen alten weißen Mannes
Die Bühne, eine silbrig-glänzende Pop-Kulisse: der Boden mit Silberfolie ausgelegt, die Rückwand ein kunstvoll geraffter silberfarbener Vorhang, der, verschieden angestrahlt, auch mal farbig glitzern kann, in der Mitte eine riesige Halbkugel, vielleicht die Weltkugel? Die Sonne? Oder nur schlicht eine königlich-anmaßende Diskokugel?Das Ganze vorerst ein prunkvoller Festsaal, der sich aber als höchst hybride erweisen wird, wenn mit der fortschreitenden Katastrophe aus dem grellen Palast eine kahle Landschaft, eine schwarze Einöde wird.
Es herrscht Feststimmung: eine Band nimmt Platz auf der Bühne und wird den ganzen Abend das Geschehen begleiten - mal dezent untermalend, mal auch extrem kraftvoll verstärkend.
Drei Glamour-Ladies erscheinen in Silber-Pailletten-Outfit mit blonder Pony-Frisur, winken ins Publikum und nehmen Platz in der ersten Reihe im Parkett. Dann erscheint der Star des Abends in schulterfreiem, bodenlangem glitzerndem Abendkleid mit opulenter Schleppe: der grandiose Wolfram Koch als König Lear im Gender-Kostüm, so ganz ohne Zepter und Purpur. Auch er nimmt Platz vorne im Parkett. Dazu kommen noch Gloster (Falk Rockstroh) im Fuchsmantel und sein Bastard Edmund in gold-glitzernden Shorts mit floral gemustertem Pulli: mehr großer Junge, den er ja scheinheilig vorgibt, als machtgieriger Bösewicht, der er tatsächlich ist (überzeugend: Johannes Hegemann). Dann sitzen da noch Tilo Werner als Kent im bodenlangen Plisseerock und Christiane von Poelnitz in lustig-gelbem Outfit, die den König als kluger Narre virtuos durch das Stück begleiten wird.
Einigermaßen überrascht es, dass diese poppige Festgesellschaft der Hofstaat in der Shakespeareschen Tragödie König Lear sein soll, eines der dunkelsten und nihilistischsten Stücke, das der Autor - Anfang des 17. Jahrhunderts geschrieben - in der Antike ansiedelte. Doch tatsächlich gelingt es dem Regisseur Jan Bosse mit einem brillanten Ensemble nach einem etwas flatterhaften Start das Geschehen über viel bösen Humor in eine berührende Dunkelheit und Trostlosigkeit zu führen.
Zunächst wie immer: der unlautere Liebeswettbewerb. „Da wir uns entkleiden werden von Herrschaft, Grundbesitz und aller Staatsraison“, beginnt der diesmal noch gar nicht so alte, eitle Patriarch, fügt später allerdings hinzu, dass er die Krone (die bei Bosse allerdings gar nicht als Requisit und Symbol auftaucht) selbst behalten will. Vorerst aber die berühmte Frage an die drei Töchter: „Welche von euch liebt uns am meisten?“ Die beiden älteren, Gonerli und Regan (Anna Blomeier und Pauline Rénevier, beide stark in den Frauenrollen) kommen nacheinander selbstbewusst auf die Bühne gestöckelt und geben ihre heuchlerischen Liebesbekundungen ab. Die dritte, vom Vater bisher am innigsten geliebte Tochter Cordelia, verweigert zunächst den Auftritt, gesteht ihm dann nur ihre geteilte Liebe, die Vaterliebe zu, woraufhin sie enterbt und verbannt wird.
In dieser Szene ist die gesamte Tragödie angelegt: der Generationen- und Geschlechterkonflikt sowiedie in Shakespeares Königsdramen immer wieder auftretende Vermengung von Öffentlichem und Privatem, hier von Kindesliebe und Reichsführung. Wenn der König nach seiner egomanen Entscheidung jammert, dass er doch alles auf Cordelias „sanfte Pflege gesetzt“ habe, und Wörter wie Erbe und Rente fallen, blitzt der Charme der Neuübersetzung von Miru Miroslava Svolikova auf - selbst Autorin, bildende Künstlerin und Musikerin -, die von ihrer Arbeit sagt, dass sie „einen Pakt eingegangen (sei) mit den Bildern der (Shakespearschen) Sprache“.
Die Aufführung schafft starke Bilder: Der allmähliche Absturz des Protagonisten in den Wahnsinn wird vom Einsturz der Kulisse begleitet: der Silberglanz geht über in Düsternis, die Halbkugel senkt sich zur Erde, wird Hügel und Hütte in der Einöde zugleich, eine Windmaschine treibt Nebel über die Bühne. Mit fortschreitendem Altersschwachsinn entkleidet sich Lear über ein Trägerhemd bis zu schwarzen Shorts bei nacktem Oberkörper. Als „nutzloser alter Mann, der sich die Macht anmaßt, die er selbst abgegeben hat“ bleibt ihm in der Einöde zunächst der verständnisvolle Narr, der das Elend seines Herrn zusammenfasst in der ironischen Klage: „Du hättest nicht alt sein sollen, bis du weise gewesen bist.“ Außer diesem treuen Begleiter bleiben ihm nur der geblendete, vom skrupellos, heuchlerischen Bastard-Sohn Edmund verratene Gefährte Gloster und die unter falscher Identität getarnten Getreuen Kent und Edgar Gloster, der als irrer Bettler von Lear als der einzig „wahre Mensch“ erkannt wird. In der Tat ist es eine böse Ironie, wenn sich die Guten im Stück in dieser verkleideten und entmachteten Gruppe zusammenfinden.
Lear erkennt am Ende in einem klaren Moment seinen Fehler und stirbt im Kummer um den Tod der geliebten Tochter Cordelia am gebrochenen Herzen.
Bei Bosse gibt es kein Licht am Ende des Tunnels.
Bei Shakespeare bleibt hingegen die Hoffnung: Der Herzog von Albanien, Gonerils Witwer, den Bosse - wie viele andere - ganz gestrichen hat, ernennt Edgar den guten Gloster zu Lears Nachfolger. Es gilt: „Die Jungen steigen, wenn die Alten fallen“.