Übrigens …

Der Kissenmann im Theater Duisburg

Virtuoses Verwirrspiel

Schon in der ersten Szene scheint dem Zuschauer die Situation so sonnenklar wie düster. Einem Gefangenen, dem eine Maske über das Gesicht gezogen wurde, droht die Folter. Zwei Ermittler eines totalitären Staats lungern um ihn herum, abweisend, drohend, böse. Der Gefangene entpuppt sich bald als Schriftsteller. Klare Sache also: Uns erwartet ein Polit-Drama. Das Übliche: „Meinungsfreiheit in autokratischem Staat unterdrückt“. Passt ja in die Zeit, in der Demokratien im Handumdrehen von narzisstischen Führern gekidnappt werden.

Nun, warten wir ab. - Polizist Ariel wird von Adrian Hildebrandt ein bisschen eindimensional gespielt. Er ist vor allem tumb und brutal. Alexander Stürmer gibt den Polizisten Tupolski differenzierter: Vordergründig wirkt er weicher, verständnisvoller. Und doch scheint er stets auf der Lauer. Etwas Gefährliches blitzt hinter seiner verständnisvollen Fassade auf; jederzeit erwartet man den Ausbruch von Gewalt. Katurian, der Gefangene, habe ja wohl schon bemerkt: Er sei der good cop, Ariel der bad cop, sagt Tupolski. Warten wir’s ab.

Den im Foltergefängnis festgehaltenen Schriftsteller Katurian gibt Roland Riebeling. Seiner Angst begegnet er mit Schlagfertigkeit. Er wirkt geradezu anbiedernd, will alles gestehen. Er ist weich, er ist ungeheuer sympathisch. Trotz der von ihm geschriebenen Geschichten? Die sind von Blut getränkt. In jeder einzelnen dieser Erzählungen wird ein Kind fertig gemacht: gequält, getötet, in den Suizid getrieben. Warum eigentlich behält Riebelings Figur nach wie vor unsere Sympathie?

Nach und nach werden Katurians kurze Geschichten auf der Bühne erzählt. Sensiblen Gemütern mag das durchaus auf den Magen schlagen. Ist das alles perverse Fiktion, was da zur Sprache kommt? Warten wir’s ab. Erstmal lernen wir Katurians Bruder Michal kennen: Behzad Sharifi gibt ihn als nicht unsympathisches geistig zurückgebliebenes Riesen-Baby. So rührend wie sich Katurian um Michal kümmert, denkt man an George und Lennie aus John Steinbecks „Von Mäusen und Menschen“ - denken Sie noch einmal drüber nach, nachdem Sie die Aufführung am Theater Duisburg gesehen haben! Zunächst sehen wir Michal nicht, sondern wir hören ihn: Er wird gerade im Nachbarraum gefoltert. Obwohl: Klingen so die Schreie eines Gefolterten? - Abwarten…

Liebe Leserinnen und Leser, was wissen Sie eigentlich, nachdem Ihnen der Rezensent von seinem Besuch beim Kissenmann im Theater Duisburg erzählt hat? Wissen Sie, dass der Rezensent im Theater Duisburg war? Dass er dort den Kissenmann von Martin McDonagh gesehen hat? Nein! Sie wissen nur, dass der Rezensent schreibt, er sei im Theater Duisburg gewesen und habe den Kissenmann gesehen. Der Rest - ist vielleicht perverse Fiktion oder blühende Phantasie. Vielleicht wissen die Ermittler mehr. Denn die ermitteln nicht im Auftrag eines totalitären Herrschers in irgendeinem Polit-Fall, sondern sie suchen ein vermisstes Mädchen und ermitteln in Fällen von Kindermord. Sie präsentieren eine Kiste mit Kinder-Zehen, an denen längst getrocknetes Blut klebt. Sind das wirklich Kinderzehen? - Dunkle Geheimnisse werden gelüftet.

So, Ende mit Erna: Wir haben schon genug gespoilert. Vergessen Sie alles, was oben geschrieben steht, denn Sie wissen ja sowieso nicht, was wahr ist. Der Kissenmann ist mutmaßlich Martin McDonaghs stärkstes Stück; seit seiner Uraufführung am National Theatre London vor mehr als 21 Jahren wurde es an ungezählten kleinen und großen Theatern rauf und runter gespielt. Das Stück ist wie die Wahrheit: ein Verwirrspiel. Es ist ein Thriller, ein Rätselspiel, eine Zumutung und eine Komödie, die der Kategorie „makaber, aber geschmacklos“ entspricht - und entsprechend riesigen Spaß macht, wenn man den Inhalt aushält. Hochaktuell stellt es die Frage, was Wahrheit und was Fiktion ist - wobei 2003 noch Wahrheit als Fiktion verschleiert wurde, heute dagegen von manchem Möchtegern-Autokraten Fiktion zur Wahrheit erklärt wird. - Es ist ein Stück über verschwimmende Grenzen zwischen Literatur und Leben und nicht zuletzt über die potentiellen schrecklichen Folgen von Missbrauch und Traumata.

Das Quartett in Alexander Vaassens Inszenierung am Theater Duisburg spielt virtuos mit den Rätseln des Stücks. Allein Roland Riebelings Mienenspiel ist das Eintrittsgeld wert: Grandios spielt er den naiven Verdächtigen, gibt er den fürsorglichen Bruder, den wütenden Beschuldigten, den gewitzten Erzähler entsetzlicher Moritaten. (Es sind übrigens zum großen Teil Geschichten, die Martin McDonagh geschrieben hat, bevor ihm sein literarischer Durchbruch gelang, und die seinerzeit von Verlagen und Rundfunkanstalten abgelehnt wurden.) Großartig gelingt es Alexander Stürmer, die Doppelbödigkeit seiner Figur darzustellen. Natürlich bleibt es nicht bei der Rollenverteilung zwischen good cop und bad cop, so dass auch Adrian Hildebrandt noch seine schauspielerische Variabilität unter Beweis stellen kann. Doppelbödig ist auch die Rolle des behinderten Michal: Behzad Sharifi nimmt diese Herausforderung dankbar an und wächst dem Zuschauer mit seiner sympathischen Naivität ans Herz - bevor man erschauert wegen einer Erkenntnis, die kurze Zeit später wieder in Frage gestellt werden wird.

Herr Katurian, ich bin ein hochrangiger Polizeibeamter in irgendeiner beschissenen Diktatur“, sagt Tupolski einmal. „Wie kommen Sie dazu, mir irgendetwas zu glauben?“ - Nichts kann man in diesem Stück glauben. Der Zuschauer denkt am Schluss, er habe die Lösung des Rätsels gefunden, vor das die Aufführung ihn stellt. Doch dann läuft ein kleines grünes Schwein über die Bühne. Es ist die Regie-Assistentin.