Übrigens …

Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull im Bonn, Theater

Mit Chuzpe, Charme und Rollenspiel

Vielleicht ist die Hochstapelei ja schon genetisch angelegt. Felix Krulls Vater Engelbert ist Inhaber der „Loreley Schaumweinfabrik“. Die wirbt mit ihrem „Cuvée“, dessen Schriftzug quer über die gesamte Bühne der Werkstatt des Theaters Bonn reicht - nicht in bordeaux, eher in bordellrot, einer Farbe, die auch die Kostüme sowie die gesamte Aufführung dominiert. Cuvée - nun ja, in Frankreich mag das was Besonderes sein, eine kreative Schöpfung des Winzers. Im Rheingau galt das eher als mieser Verschnitt. „Giftmischer“ nennt Felix‘ Pate Schimmelpreester seinen Freund Engelbert daher. Aber Papa Krull lebt auf großem Fuße - bis dass sein Laden pleite geht. Schimmelpreester hat es gerade nötig, über den hochstaplerisch-betrügerischen Sektmanufakteur zu spotten: Dem mediokren Kunstmaler ließe sich trefflich eine Klage wegen Titelmissbrauchs anhängen, lässt er sich doch fälschlich als „Professor“ anreden. Wer solche Schweinepriester als Vorbilder hat, muss ja ein feines Früchtchen werden.

So geschieht es denn auch, wenn nicht gefördert, so wenigstens nicht verhindert von Felix‘ Familie. Schon in früher Kindheit sitzt der Kleine im trauten Heim und spielt Kaiser. Mutter ist ganz ergriffen von seiner Würde, und Vater erschießt sich angesichts des Desasters seiner Firma. Felix schätzt weniger die Arbeit als vielmehr die „Ungebundenheit des Geistes“ und die Phantasie, und er begreift: Am Beginn des Glücks benötigt man ein wenig „Elastizität des Vorstellungsvermögens“. Life and Adventures of a formidable Hochstapler nehmen ihren Lauf. Thomas Manns umfangreiche Geschichte, inhaltlich dem Genre des Schelmenromans zugehörig, aber als Parodie auf Goethes autobiographisch grundiertes Werk „Dichtung und Wahrheit“ gedacht, wird vom Theater Bonn in ca. 100 Minuten und mit nur vier Schauspielerinnen und Schauspielern auf die Bühne gebracht. Felix zieht in die Welt, bedient den Ascenseur und die sadomasochistischen Gelüste der alternden Kloschüsselfabrikantengattin Houpflé im Pariser Luxushotel und erwehrt sich der eher karriereschädigenden Fluchtversuche der jungen Eleanor Twentyman sowie der vornehmen Annäherungsversuche des noblen homosexuellen Lord Kilmarnock, der Felix sogar adoptieren möchte. Nach einem Identitätswechsel mit dem Marquis de Venosta reist er nach Lissabon und trifft den mit wunderbaren philosophischen Betrachtungen aufwartenden Museumsdirektor Professor Kuckuck.

All das ist ein großartiger Stoff für einen gediegenen Theaterabend auf gehobenem Niveau, der notfalls allein von Thomas Manns unnachahmlicher Kombination aus sprachlicher Eleganz und feiner Ironie leben kann. Für Paul Michael Stiehler als permanent gefordertem Felix Krull ist der Text tolles Rollenfutter, das ihm allerdings in den einzelnen Szenen unterschiedlich gut zu schmecken scheint. Die übrigen drei Akteure dürfen sich sämtlich in einer Vielzahl höchst unterschiedlicher Rollen präsentieren. In Hanna Müllers solider, aber nicht allzu inspirierter Inszenierung gelingt dies in unterschiedlichem Maße, wobei jede Schauspielerin und jeder Schauspieler einzelne glänzende Momente hat. Die größte Variabilität beweist Lena Geyer, die als zackiger, etwas dümmlicher Militärarzt ebenso überzeugt wie als überkandidelte pubertierende 17jährige Eleanor oder als alter, fies seine Machtposition heraushängender Hoteldirektor Stürzli. Klasse gelingen Sören Wunderlich die eher traurigen Momente des komödiantischen Abends: Stumm und staunend, vor allem aber hilflos erlebt er seine letztlich grundlose Entlassung als Liftboy Armand; später gibt er den zur „Selbstverneinung“ neigenden, seine Depression und seinen Weltekel geradezu feiernden Lord Kilmarnock auf dem Grat zwischen Karikatur und Mitleiderregung. Ursula Grossenbacher hat ihren überzeugendsten Auftritt in der langen Szene als Madame Houpflé alias Schriftstellerin Philibert, in der sie zwischen brünstiger Milf und genüsslich die Klassenunterschiede auskostender Großbürgerin changiert.

Wie im Roman wird auch in Hanna Müllers Inszenierung die Hohlheit der Upper Class und ihres Klassenbewusstseins dechiffriert, wobei ausgerechnet die britische stiff underlip des Lord Kilmarnock angesichts von dessen fühlbar pathologischer Melancholie halbwegs verschont bleibt. Im Zuge von Felix‘ - nur durch erschlichene Beziehungen erfolgreicher - Bewerbung im Pariser Luxushotel blitzen immer wieder die Radikalität des Frühkapitalismus und die ungerechtfertigte Bedeutung der sozialen Herkunft auf. Merksätze fallen dazu zum Beispiel im Zusammenhang mit dem von Marquis de Venosta angeregten Identitätstausch: „Eine Aristokratie des Geldes ist eine vertauschbare Zufalls-Aristokratie“ heißt es da. Oder. „Den Anzug gewechselt, könnten die Bediensteten Herrscher sein.“

Dass eine Reihe von Charakteren crossgender besetzt werden, ist heute so verbreitet, dass es kaum noch der Erwähnung wert scheint. Tatsächlich aber gehören Thomas Manns Roman ebenso wie viele seiner Novellen oder Kurzgeschichten zu den ersten Werken der deutschsprachigen Literatur, in denen relativ selbstverständlich homosexuelle oder sogar genderfluide Figuren auftreten. Unmittelbar zahlt sich die genderverkehrte Besetzung des „Generalarztes“ bei Felix Krulls Musterung aus. Felix spielt dem von Lena Geyer als wunderbare Karikatur gespielten Militärmediziner eine virtuose Komödie vor - und auf so überraschende wie faszinierende Weise bekommt die Musterung des Frauenhelden plötzlich einen erotischen Anstrich.

Krull also betrügt sich munter durch die Welt und steigt mit geliehener Identität, aber auch mit Chuzpe, Charme und Geschick vom Liftboy in die höchsten Sphären der Gesellschaft auf. Er genießt es zunächst, doch irgendwann spürt auch er eine innere Leere. Zaza, der singende Grund für Venostas Identitätswechsel, hat ihn früh durchschaut: „Sie sind der Typ, der mehr geliebt wird als er selber liebt.“ Wer niemals liebt oder für andere ein Commitment übernimmt, bleibt innerlich leer. Und so ist es vielleicht der Reisegefährte von Felix im Zug nach Lissabon, der merkwürdige Professor Kuckuck, der die wahrhaftigsten Sätze für ihn bereithält hält. „Das Sein hat es nicht immer gegeben“, sagt er. „Es wird ein Ende haben. Und mit ihm Raum und Zeit. … Das Leben ist nur eine Episode. Ein Zwischenfall zwischen Nichts und Nichts.“

Sagt er bei Thomas Mann in langen, geflochtenen Sätzen. Knackig formuliert, macht es nachdenklicher.