Übrigens …

Blindekuh mit dem Tod im Schauspielhaus Düsseldorf

Sie möchten leben: kämpfen und lieben und hassen

Vor den schwarzen Bühnenwänden steht ein hoher grauer Kasten, der nach einer Drehung einen bedrängenden Raum freigibt, dessen bemalte Rückwand auf die Vorlage zum heutigen Abend, die Graphic Novel Blindekuh mit dem Tod verweisen kann. Ein großer gelber Fleck mag ein Hoffnungsschimmer sein, ist aber zugleich grausige Erinnerung an den „Gelben Fleck“, wie die Betroffenen den gelben Stern nannten, den sie als diskriminierende, stigmatisierende und demütigende Zwangskennzeichnung tragen mussten. Diese beklemmende Kammer steht für die Verstecke der Verfolgten, sei es ein Dachboden oder Bunker.

Am linken Bühnenrand stehen Schlagzeug und Klavier, auf dem Yaromyr Bozhenko leise zu spielen beginnt. Er wird das berührende Geschehen des Abends - mal stimmungsvoll untermalend, mal heftig interpretierend - begleiten.

Eine Frau betritt die Bühne von rechts, die Jüdin Mini, schaut gutgelaunt um sich und entdeckt gegenüber einen Mann, erkennt Herbert, den Freund ihrer Kindheit. Sie gehen aufeinander zu, umarmen sich, nennen sich beim Namen. Auf ihre Frage: „Wie lang ist es her?“ weicht er aus, gibt vor, es nicht zu wissen. Aber sie weiß es: siebzig Jahre sind es, und sie erinnert sich genau: „Wir waren wie Bruder und Schwester“. Glücklich über diese zufällige Begegnung in der Stadt ihrer Kindheit, in Czernowitz, berühren sie sich behutsam. Doch als Mimi ihn zu erinnern versucht, an die gemeinsamen Spiele, an die Freundschaft der Mütter, zieht er sich zurück, behauptet wiederum, alles vergessen zu haben. Doch Mimi gibt nicht nach, erinnert an Streiche, Orte, Menschen und ganz langsam löst sich bei ihm die Sperre, öffnet er sich, lässt alte Bilder zu, die er tief in sich vergraben glaubte und gemeinsam gehen sie Kindheitserinnerungen nach. Aus Bruchstücken der Erinnerung entfalten sich so die Schicksale von vier Überlebenden der Shoa. Dabei ist Natalie Hanslik als Mimi, genauer Miriam Taylor, und in vielen anderen Rollen, der drängendere Part. Doch auch Leon Wieferich lebt sich mehr und mehr ein in die Rolle des Herbert Rubinstein und all der anderen ins Gedenken Zurückgerufenen. Dabei wechseln beide virtuos von Spielszenen in Erzählparte. Wichtig, dass die Autoren Stefan Fischer-Fels und Robert Gerloff die Fülle der in der Comic-Buchvorlage vorgegebenen Dialoge nicht einfach übernommen, sondern der sprachlichen Rückbesinnung zweier Erwachsener angepasst haben.

Was hier auf der Bühne erspielt und berichtet wird über das Leben und Leiden jüdischer Menschen, sind nicht Autofiktionen, sondern historisch belegte Tatsachen.

Bevor die beiden zu den Einzelschicksalen kommen, zum Leiden und Überleben von Miriam (Mimi) Taylor, Josyf Elgiser, Josyf (Jossi) Bursuk und Herbert Rubinstein, berichten sie chorisch über ihre Heimatstadt Czernowitz in der Bukowina vor dem Zweiten Weltkrieg, über ihre multikulturelle Stadtbevölkerung aus Deutschen, Ukrainern, Juden, Rumänen, Polen und Huzulen. Eine vielsprachige, kulturell blühende Stadt. Und hier in Czernowitz hat auch die Widerbegegnung von Mimi und Herbert tatsächlich 2018 stattgefunden. Eine authentische Geschichte, die Anna Yamchuk, Mykola Kuschnir, Natalya Herasym und Anna Tarnowezka zum Ausgangsgeschehen ihrer gründlich recherchierten, 2023 veröffentlichten Graphic Novel machten.

Herberts Interesse erwacht, er fragt Mimi zunächst noch zögerlich nach ihrer eigenen Geschichte, und sie, die von sich sagt, sie habe „ein Leben gelebt, fast wie alle anderen“, berichtet vom Glück im Unglück ihrer Familie. Vom Zusammengepferchtsein im Ghetto von Czernowitz, von den verzehrenden Ängsten vor Deportation und Ermordung, vor dem Verlust der liebsten Menschen. Sie selbst entkam über Amsterdam nach Israel und schließlich als Erwachsene in die USA. Leise erklingt Musik vom weltberühmten Musiker Josyf Elgiser, der mit seiner Familie ins Lager nach Transnistrien verschleppt wurde, glücklich entkam und seit 2014 in seiner Heimatstadt begraben liegt. Dann schlüpfen Hanslik und Wieferich in die Rollen von Jossi, seiner Familie und Verfolger. Zweimal entkamen sie dem Abtransport, überlebten in Verstecken bei helfenden Menschen, die sich selbst damit in Todesgefahr brachten. Jossi wurde später Chef der Traumatologie im Krankenhaus von Czernowitz, wo auch er seit 2014 begraben liegt.

Dann kommen die Beiden in ihrer herzergreifenden Darstellung zum Schicksal des Herbert Rubinstein. Auch seine Familie wird ins Ghetto verbannt, sie schlafen auf dem nackten Boden. Täglich werden von dort 1500 Menschen in Viehwagen abtransportiert in den Tod. Der Mutter gelingt es, gefälschte Papiere zu besorgen mit polnischer Identität. Unmittelbar vor dem Viehwagen werden sie kontrolliert und als Polen zurückgewiesen: Ein ungeklärter Fall. Wenige Tage später marschieren die Russen ein. Die verbrecherischen Nazis sind vertrieben, doch schon bald verbreitet sich die Nachricht, die Russen würden alle Juden nach Sibirien deportieren. Die Familie Rubinstein flieht nach Rumänien. Kehrt noch einmal zurück und erhält die Nachricht, dass der Vater, Max Rubinstein, fünf Tage vor Kriegsende erschossen wurde. Sie wandern nach Amsterdam aus. 1956 siedelt Herbert Rubinstein nach Düsseldorf um, wo er nicht wirklich „Normalität“ vorfindet aber dennoch bis heute lebt.

Am Premierenabend sitzt er im Publikum. Die Geschichte reicht in die Gegenwart.

Zum wiederholten Mal stimmt Natalie Hanslik - in Begleitung von Yaromyr Bozhenko am Klavier und Leon Wieferich jetzt am Schlagzeug - das Lied an, das sich wie ein Leidmotiv durch den bedrückenden Abend zieht: „Ich möchte leben. Ich will nicht sterben. Nein! Nein.“ Zeilen aus einem Gedicht der wunderbaren Dichterin Selma Meerbaum, eine Cousine von Paul Celan, beide auch aus Czernowitz. Sie überlebte den Nazi-Terror nicht, verstarb siebzehnjährig im Zwangsarbeitslager der SS. Drei ihrer Gedichte vertonte Cornelius Borgolte für die Bühnenfassung, die wie auch die Lichtführung von Benjamin Grunwald zur so beklemmenden wie ergreifenden Atmosphäre der Geschichten beitragen.