Übrigens …

Engel in Amerika im Köln, Schauspiel

Eine 34 Jahre alte Gegenwartsanalyse

Es ist ein Land im Zustand der Zerstörung, zumindest des baldigen Untergangs, das Patrick Loibls Bühnenbild im cinemascopeartigen Breitwandformat zeigt. Rechts wird die Bühne dominiert von dem, was von der Freiheitsstatue noch übriggeblieben ist: Die stolze Bewahrerin des amerikanischen Traums ist gestürzt wie einst das Standbild von Saddam Hussein in Bagdad. Lädiert ist sie; nur der halbe Kopf ist noch zu sehen. Aber immerhin bietet sie noch denjenigen Schutz, die glauben, sich verstecken zu müssen: den Menschen aus der queeren Community, die man damals, Anfang der 1990er Jahre, als Tony Kushner sein Stück Engel in Amerika schrieb, noch längst nicht so nannte. Sie hatte doppelt Angst: vor der Diskriminierung durch weite Teile von Gesellschaft und Politik und durch die massive Ausbreitung der Aids-Epidemie, gegen die noch kein Gegenmittel gefunden war. Beide Bedrohungen seien mittlerweile weitgehend überwunden, dachte man, bis dass einen Monat vor der Premiere der Inszenierung von Matthias Köhler im immer ferner rückenden Amerika ein Mann ans Ruder kam, der jeglichen Minderheitenschutz per Handstreich abschaffte und die queere Community wieder zum Feindbild erklärte. Und der bei einem Mann gelernt hat, der in Kushners Mammut-Drama eine entscheidende Rolle spielt: Roy Cohn.

McCarthys Bluthund“ nannte der SPIEGEL den Berater des politisch weit rechts stehenden Senators und Kommunistenjägers. Intelligent, ehrgeizig und skrupellos hängte er sich an die Mächtigen respektive diejenigen, die im Begriff waren, in die höchsten Sphären der Macht aufzusteigen – und an diejenigen, die ebenso skrupellos waren wie er. Er unterstützte die Präsidentschaftskampagne von Ronald Reagan, war als Anwalt für diverse Mafia-Bosse erfolgreich und protegierte von 1973 bis zu seinem Tod im Jahre 1986 einen jungen Geschäftsmann: Donald Trump. Cohn gab sich als militanter Schwulen-Hasser. Und starb an Aids. Ohne seine Homosexualität je eingestanden zu haben…

In Kushners Drama trägt Cohn selbstverständlich auch fiktionale Züge. Vor allem ist die Geschichte, die von ihm und seinem Bürovorsteher Joe Pitt erzählt wird, erfunden. Beide sind kompromisslose Unterstützer der Republikanischen Partei, doch wie nah sich Fanatismus und der Glaube an das Gute sein können, zeigt diese Bürogemeinschaft perfekt: Cohn – in Köln grandios verkörpert von Andreas Grötzinger – ist laut, vulgär und ungehobelt, Joe dagegen schüchtern, loyal und im mormonischen Glauben verhaftet. Cohn kennt keine moralischen Grenzen, Joe verkörpert die integre Seite des Landes. Cohn geht über Leichen für persönlichen Erfolg, Joe unterstützt seine Partei für den Erfolg seines Landes. Cohn will Joe instrumentalisieren, indem er ihn nach Washington in die Nähe der Macht entsenden will. Aber Grötzinger macht gleichzeitig glaubhaft, dass sein Cohn seinen Mitarbeiter unterstützen will: Im Umgang mit Joe wirkt Cohn weicher, menschlicher. Es ist, als fühlten sich die beiden so unterschiedlichen Charaktere zueinander hingezogen. Beide sind uneingestanden homosexuell…

Was für den einen ein politisches und ein Karriere-Problem ist, ist für den anderen ein moralisches. Der mormonische Glaube verbietet die Homosexualität strikt. Zudem ist Joes Frau Harper schwer tablettensüchtig. Die Ehe ist kaputt, aber Joe fühlt eine Verantwortung für seine ab und an halluzinierende Frau, die ihn fast zerreißt. Und so wandert Henri Mertens‘ Joe im steten Bemühen um Sauberkeit und Fairness durch die schmutzigen Welten Amerikas, blauäugig loyal zu einem korrupten Narzissten, verklemmt bezüglich der eigenen Sexualität und im ständigen Kampf zwischen Neigung und Pflicht. Wie Mertens aufrecht, scheu und um Konformität bemüht diese innere Zerrissenheit spürbar macht, ist sensationell.

Joes und Harpers Ehe hält diesem Konflikt nicht stand. So wenig wie die Beziehung eines zweiten Pärchens: Louis, einfacher Gerichtsangestellter, war mit Prior zusammen. Im Gegensatz zur Ehe von Harper und Joe schien diese Beziehung glücklich, bis Prior an Aids erkrankte. Er zeigt Louis die Kaposi-Sarkome, die sich am Körper ausbreiten – und es ist nicht der Kranke, sondern der Gesunde, der das nicht aushält. Louis verlässt Prior und gabelt mit sicherem Instinkt den unglücklichen Joe auf, dem er seine Homosexualität auf den Kopf zusagt. Ihre körperliche Beziehung beginnt klandestin hinter der gestürzten Freiheitsstatue. Und auch sie hat keine Zukunft. Sie scheitert vor allem am schlechten Gewissen von Louis Prior gegenüber und von Joe Harper gegenüber. Auch Simon Kirsch als Louis zeigt zwei Seiten seiner Figur: den wenig empathischen, seinem alten Partner gegenüber illoyalen Egoisten und den Pragmatiker, der Joes Verklemmungen zu lockern versteht. Prior dagegen, der mit einer lebensgefährlichen HIV-Infektion im Krankenhaus landet und spürt, wie auch sein Gehirn mehr und mehr angegriffen wird, bleibt auf wundersame Weise optimistisch und positiv. Nicht zum ersten Mal beeindruckt Nicholas Streit, ein neues Mitglied im Kölner Schauspiel-Ensemble, in dieser Spielzeit durch seine enorme Wandlungsfähigkeit und sein humorvolles Spiel. Doch auch er wird krankheitsbedingt von Halluzinationen heimgesucht: New York brennt. Die große, fotografisch-filmische Leinwand, die den Bühnenhintergrund bildet, weckt Assoziationen an 9/11. Auch so ein Strafgericht Gottes, wie manche meinen…

Tatsächlich steckt der Text voller religiöser Bezüge. Harper und Joe sowie dessen zunächst ultrakonservative, verhärtete Mutter vermögen die Fesseln des mormonischen Glaubens nicht abzulegen, Cohn ebenso wie Louis sind – nicht praktizierende – Mitglieder der jüdischen Community und haben sich von den Restriktionen, die ihre Religion ihnen aufzulegen versucht, befreit. Alttestamentarische Bibelzitate und -bezüge wollen entschlüsselt werden; der Engel, der in Gestalt von Nicola Gründel mehrfach vom Bühnenhimmel herabschwebt, hat Prophezeiungen und Ratschläge auf Lager, die nicht immer nach einem gnädigen Gott klingen. Aber wer weiß, wer der titelgebende Engel in Amerika wirklich ist? Ganz pragmatisch übernimmt die Figur von Kelvin Kilonzo eine solche engelhafte Rolle: Im Beruf der (schwarze!) Pfleger des rassistischen Roy Cohn und des großherzigen Prior, in der Freizeit eine liebenswerte Drag Queen, zeichnet Kilonzo eine Figur von scharfem Verstand, souveräner Schlagfertigkeit, warmherzigem Gemüt und unendlicher Toleranz. Er ist die positivste Figur im untergehenden Amerika. Aber auch Prior kommt als Engel einer neuen Generation in Frage – einer Generation, die nicht auf Gott vertraut, sondern auf den eigenen Optimismus. „Wir können nicht warten auf Gott – der kommt nicht wieder. Verklagt den Scheiß-Kerl!“, spottet er. Er gesundet und fasst neuen Lebensmut: Er sei nicht der Prophet, sondern ein 31jähriger, der leben und etwas schaffen wolle. Er wird zum Mutmacher – so wie Belize, nur auf ganz andere Art.

Tony Kushners Engel in Amerika ist mehr als 30 Jahre alt. Uraufgeführt im Jahre 1991 in San Francisco, war es das wichtigste Theaterstück der frühen 1990er Jahre und eine Ikone der Schwulen-Bewegung. Natürlich ist es ein Stück über die neoliberalen Reagan-Jahre in den USA, über den Ausbruch und Höhepunkt der damals noch nicht behandelbaren AIDS-Pandemie. Doch es ist auch ein Stück über unmögliche Liebe und homosexuelle Paare sowie über die Fesseln, die der Glaube und die Religion dem Menschen anlegen kann. Es stellt die Frage nach dem Rassismus und der Akzeptanz der LGBTQ-Kultur in einer vermeintlich aufgeklärten Demokratie bei gleichzeitig existierenden rigiden religiösen oder ideologischen Vorstellungen. Und damit ist es hochaktuell in Zeiten, in denen nicht nur in Amerika die Rechte der queeren Community wieder in Frage gestellt, medizinische Hilfsprogramme und Diversitätsprogramme eingestellt werden und der Minderheitenschutz reduziert wird. Bisweilen hat man den Eindruck, dass Kushner vor 34 Jahren eine prophetische Analyse unserer Gegenwart geschrieben hat. Nicht nur wegen seines Plots überzeugt Kushners komplexes, in Köln auf gut vier Stunden zusammengestrichenes Stück, sondern auch wegen seiner Konstruktion und seiner sprachlichen Vielfalt – und in Köln wegen seines im Stil der Popart gestalteten Bühnenbildes, in dem es viel zu entdecken gibt. Kushners Forderung nach schnellen Szenenwechseln ohne Blackouts kommt Regisseur Matthias Köhler perfekt nach: Virtuos sind die verschiedenen Szenen ineinander verschachtelt, häufig ohne dass die Protagonisten der vorherigen Szenen die Bühne verlassen.

Geister wandern durch das Stück, nicht nur in den Halluzinationen von Harper, Prior und Roy Cohn: Die auf der Basis von durch den Anwalt Roy Cohn gefälschten Beweisen zum Tode verurteilte Ethel Rosenberg, täuschend ähnlich den historischen Fotos nachempfunden, kostet ihren postmortalen Triumph aus und erscheint dem Sterbenden im Krankenhaus, die tablettensüchtige Harper, von Sophia Burtscher mit luziden Texten und charmanter Standfestigkeit gespielt, reist auf der Suche nach dem Ozonloch halluzinierend durch die Antarktis; der herabfahrende Engel von Nicola Gründel hat etwas Unergründliches. Es sind im Wesentlichen gute Geister, die da im Müll des zerstörten Amerika erscheinen. Denn überraschend entwirft Kushner am Ende eine positive Utopie. Joes Mutter Hannah, die den Versuch eines Coming Out ihres Sohnes mit schmerzender Brutalität abblockte, schließt Freundschaft mit dem schwulen Prior, Cohn lässt im Stadium der Krankheit zumindest vorübergehend menschliche Züge wie Angst und Zweifel erkennen, und nach seinem Tode spricht Belize seinem Antagonisten sogar ein Kaddisch, und die Seelen der Toten verbinden sich am Himmel miteinander und schließen das Ozonloch.

 Und Trump? „Wenn dein Engel dich im Stich lässt, weise ihn ab“, heißt es einmal. Uschi, Friedrich, Francois – da wisst ihr, was zu tun ist…