Nicht für dich. Für mich.
Wenn sich die Türen öffnen, hat das Spiel auf der rechten Bühnenseite schon begonnen: ein junger Mann im hellgrünen Kittel schleicht gedankenverloren um ein weißes Metallbett. Offensichtlich ein Krankenzimmer. Der größere Teil der Bühne verschwindet noch hinter einem grünlichen Gazevorhang, der auch als Videowand dient.
Auf dem Vorhang erscheint der Name des Patienten: Arda Kaya, und dass er gleich dreifach dargestellt wird, von Safa Raif Aksit im Krankenzimmer, von Raphael Abilgaard und Sadaf Alizada-Ahmed. Die Türen werden geschlossen, aus dem Off tönt es im Chor: Wo warst du? Der junge Mann spricht auf Türkisch vor sich hin, dann laut auf Deutsch: „Wenn du das hier liest, Papa - Papa? Vater? Baba?“ Er beschließt, beim Vornamen, Metin, zu bleiben und beginnt seinen Brief an den Vater, dem er nie begegnete, erneut: „ Wenn du das hier liest, Metin, werde ich wahrscheinlich tot sein“. Er schreibt dem unbekannten Vater in der Türkei, dass er mit Organversagen durch eine Autoimmunhepatitis auf der Intensivstation liegt, dass er dabei sei, sein Verschwinden zu dokumentieren. Und während er über die Visite klagt, die als „ganze Brigade in Kitteln hereinbricht“, erscheinen sie bedrohlich an seinem Bett. Sie überprüfen „den weiteren Verlauf der eigenen Existenz“. Das erinnert ihn ans Ausländeramt, wo der zuständige Beamte immer in der dritten Person über ihn hinweg gesprochen hat. Eine entsprechende Szene werden wir später noch mit seiner Mutter Ümran und Schwester Aylin als Rückblende erleben. Vorerst erfahren wir, dass die beiden Frauen seit zehn Jahren kein Wort miteinander gewechselt haben. Beide gibt es übrigens auch in dreifacher Besetzung.
Wo warst du? erscheint als wiederholte Frage an den fernen Vater auf dem Gazevorhang, der zurückgezogen ein Arrangement aus Treppen und Plateaus freigibt, das alles Mögliche bedeuten kann: die Ruinen des vom Erdbeben zerstörten türkischen Heimatdorfs der Mutter Ümran, das Ausländeramt, die deutsche Schule oder Straßen und Plätze, auf denen gerannt, gespielt und getanzt wird.
Sechzehn Leute verteilen sich auf den Plateaus: das diverse, generationsübergreifende Ensemble, das der Regisseur Bassam Ghazi aus spielfreudigen Laien der Kölner Stadtgesellschaft zusammenstellte, um den preisgekrönten Debütroman Vatermal von Necati Öziri, eine mehrgenerationale, postmigrantische Familiengeschichte, auf die Bühne zu bringen. Als Leitmotiv geht es dabei um den Abschiedsbrief an den abwesenden Vater, der die Familie verließ, bevor Arda geboren wurde und ihm zur Erinnerung an ihn nur einen Leberfleck im Gesicht hinterließ, das Vatermal. Der Vater schlich sich heimlich davon, obwohl ihn in der türkischen Heimat eine Gefängnisstrafe wegen Ehrenmordes erwartete und meldete sich nie wieder bei der zurückgelassenen Familie. Die im Roman beklagte hinterlassene Leerstelle ergänzt der Regisseur mit autobiographischen Einschüben aus Briefen der Ensemblemitglieder an den eigenen Vater oder zu familiärem Verstummen.
Neben der Sprachlosigkeit der zerbrochenen, vaterlosen Familie des Arda und ihren Schwierigkeiten in Deutschland, kommt auch das Schicksal der Mutter und Großeltern zur Sprache. Auch Ardas Kumpanen tauchen auf in choreographisch temperamentvoll inszenierten Erinnerungs-Szenen, begleitet von Licht- und Toneffekten.
Am Ende nehmen sich die Ardas den Fleck von der Backe: pusten ihn weg.
Fazit: Nicht für dich. Für mich. Ein Brief zur Selbstversicherung.
Zwar taucht die Ärzte-Brigade noch einmal auf, ein Ergebnis erfahren wir jedoch nicht.
Wir bleiben verunsichert zurück. Die Fülle der angerissenen Probleme, die schon der Roman angeht und die Menge der Figuren, noch dazu in Dreifachbesetzung der Hauptpersonen, ergänzt durch die autobiografischen Brieffragmente schaffen gelegentlich eine Unübersichtlichkeit und Überfrachtung der Bühnenadaption, die von der wichtigen Leitidee des Vater-Briefes ablenkt. Da wäre Weniger Mehr gewesen.