Übrigens …

Koller im Oberhausen, Theater

Die Botschaft des Koi

Koller sei ein Roman über die Magie der zufälligen Begegnung und der daraus entstehenden Bewegungen und Verwicklungen, heißt es in einer Rezension von Annika Büsings Jugend-Roman auf literaturkritik.de. Regisseur Jonas Weber hat die Geschichte jetzt als Uraufführung am Theater Oberhausen auf die Bühne gebracht, und tatsächlich verspricht schon die erste Szene seiner Inszenierung magische Momente. Im wunderbaren Bühnenbild von Marlena Gundlach ragen die langen, androgyn erotischen Beine von Tim Weckenbrock aus kitschig-bunten Blumenbeeten hervor, und anschwellendes Meeresrauschen mischt sich mit Straßengeräuschen und Fetzen von Radiomusik. Wir springen hinein in Tag 5 einer siebentägigen Reise eines schwulen Pärchens, die quer durch Deutschland und zurück führt. Vor und zurück wird es auch in der Chronologie unserer Geschichte gehen. Doch vorerst befinden sich Chris und Koller an der Ostsee.

Magie hatte wohl auch die erste Begegnung der beiden: Fünf Tage zuvor haben sie sich zufällig in einem Leipziger Park getroffen. Man kannte einander nicht, aber der Funke einer amour fou sprang über. Gegensätze ziehen sich an, weiß der Volksmund: Eigentlich passen die zwei nicht zueinander. Koller - eben dieser Tim Weckenbrock mit den langen Beinen - scheint unkonventionell und unabhängig sowohl im Denken als auch im Hinblick auf die Beurteilung seiner Person durch andere. Er wirkt flippig und verträumt und strahlt einen gehörigen Schuss femininer Erotik aus. Antonia Karnetzky hat den zartgliedrigen Schauspieler mit den weichen Gesichtszügen und dem halblangen Haar in einen hellen, bodenlangen Rock gekleidet, unter dem eine weite pludrige Hose und Jesus-Latschen hervorschimmern. Tatsächlich stilisiert er sich optisch einmal zu einer Figur, die an Christus-Darstellungen erinnert. Ella, die Mutter seiner Tochter, wird später erklären, warum sie sich in ihn verliebt hat: Er habe alles mit ihr geteilt und interessiere sich weder für Geschlechter noch für Herkunft. In seiner Welt habe alles seine Daseinsberechtigung: „Sonnenaufgänge … Schluckauf … nur meine Schwangerschaft nicht.“ Auf Letztere hatte Koller mit kurzem Schweigen und drei Worten reagiert: „Mach es weg.“ Ein Partner fürs Leben ist dieser Koller wohl nicht.

Chris, sein neuer Partner seit wenigen Tagen, verkörpert das krasse Gegenteil von Koller und ist geradezu krankhaft eifersüchtig. Er interessiert sich für Geschlechter: Er hat Angst, dass Koller die Verlockungen des heteronormativen Familienlebens entdeckt. Denn der hat zwar den Kontakt zu Ella nicht verloren, aber nicht mitgekriegt, dass Ella der Aufforderung zur Abtreibung des Kindes nicht gefolgt ist. So blickt Chris mit Sorge auf Kollers Vergangenheit und dessen neue Gegenwart, in der er die zu Pflegeeltern im gerade in der Flutkatastrophe ertrinkenden Ahrtal ausgelagerte Tochter Hannah kennenlernt. Chris geht Kollers Spontaneität und scheinbare Gelassenheit ab. Er ist der „Spießer“ in schwarzer Hose mit Weste, ernst, wenig humorbegabt und voller Angstpsychosen: Während er mit Koller im alten Polo von Leipzig über Ludwigsburg ins Ahrtal und anschließend nach Hamburg und Klütz in Mecklenburg-Vorpommern kutschiert, ist er sich der exakten Zahl der Verkehrstoten in Deutschland bewusst. Wie eine Fee aus der Märchen-Welt tritt Susanne Burkhard als seine Mutter ab und zu aus den Kulissen und säuselt: „Chris muss mutiger werden…“ Koller dagegen, so glaubt man, kann man Feigheit nicht vorwerfen. Chris bewundert ihn drum.

Leider wirkt sich die Charakterisierung der beiden Haupt-Akteure im Roman in unglücklicher Weise auf das Charisma der beiden Schauspieler aus: Weckenbrocks Spiel ist sinnlich, David Lau dagegen gibt den Chris zu drüsch, um seine Attraktivität für Koller glaubhaft zu machen. Dabei gehören Chris die stärksten, intelligentesten, zitierfähigsten Bonmots des Stücks, denn der Mann denkt nach. Und so ist die Rollenumkehr, mit der das Paar in der Schlussphase des Spiels überrascht, eigentlich nicht unlogisch. Dass Koller im Roman an einer endogenen Depression leidet, wird in der Inszenierung zwar nicht recht deutlich, aber er weckt zunehmend den Eindruck einer grüblerischen Orientierungslosigkeit. Es ist der furchtsame Chris, der nun gegen Kollers Antriebslosigkeit vorgeht und ihn an seine Verantwortung erinnert.

Regelmäßig, aber meist sehr gebremst spricht die Inszenierung das Thema Verantwortung an. Dabei liegt das bereits durch die unterschiedliche Charakterzeichnung von Koller und Chris auf der Hand. Doch vieles, was auf der Hand liegt, geht in der ersten Stunde der 100minütigen Inszenierung unter. Das Spiel wirkt - von wenigen kurzen Passagen wie der beschriebenen Eingangsszene abgesehen - uninspiriert. Im Wesentlichen dürfte das auf die Textfassung zurückzuführen sein. Die folgt zwar dem Roman, der die Handlung ebenso wenig in chronologischer Reihenfolge erzählt wie Jonas Webers Inszenierung. Doch durch das ständige Vor und Zurück wirkt die Erzählung ab und zu wirr, und es darf bezweifelt werden, ob die Zielgruppe des jugendlichen Publikums damit zurechtkommt. Mit Ausnahme von Tim Weckenbrocks Koller bleiben die Figuren zunächst blass. Bedenkt man, dass die Autorin Annika Büsing in einem Programmheft-Interview verrät, zu Beginn des Schreib-Prozesses vor allem an einen Beziehungsroman, aber nicht vorrangig an ein homosexuelles Paar gedacht zu haben, wundert man sich über die übertriebene Sexualisierung der Sprache und der Handlung in den ersten 30 Minuten der Aufführung. Erst nach 70 Minuten packt die Inszenierung. Da rückt der Konflikt zwischen Hedonismus und Verantwortungsübernahme in den Vordergrund, da deutet sich die beschriebene Rollenumkehr zwischen Chris und Koller an. Koller trifft an der Ahr ein und begegnet erstmals seiner Tochter. Mit berührender Sensibilität zeigen Franziska Roth und Tim Weckenbrock die Sprachlosigkeit zwischen Vater und Tochter, hinreißend gibt Roth eine Hannah zwischen Verschlossenheit, Misstrauen und Neugier. Und es ist, als sei nun endlich die Handbremse gelöst in einem bis dato eher langatmigen Spiel: Die Figuren von Chris und Koller zeigen nun eine Entwicklung (und machen dadurch Hoffnung auf eine gelingende Beziehung), während den beiden bis dahin eher unauffällig agierenden Frauen in verschiedenen, höchst unterschiedlichen Rollen wunderbare kleine komödiantische oder berührende Miniaturen gelingen.

Da tritt endlich auch Kollers Oma auf, die offenbar dessen einzige Bezugsperson in seiner Familie war. Möglicherweise - so wird zumindest angedeutet - hat auch Oma nach ihrer Ehescheidung in einer verschwiegenen, aber glücklichen lesbischen Beziehung gelebt. Vor allem aber hat sie ihren Koi-Teich geliebt. Erbarmungslos haben Kollers Eltern den Teich nach Omas Tod ausgetrocknet. Durch den Tod der Koi ist auch Koller um sein versprochenes Erbe gekommen. Doch Oma hat vorgesorgt. Wie durch ein Wunder erfährt Koller am Schluss der Inszenierung, dass zwei Koi überlebt haben. Wer es nicht weiß, erfährt es bei theater:pur: Ein Koi steht in Japan für Liebe und eine glückliche Beziehung, eine Gruppe von Koi für Familie und Gemeinschaft. Und ist das Leben von Koi Martin wohl eine ermutigende Botschaft im Hinblick auf die künftige Beziehung von Koller und Chris. Nur Ella, die zwei- oder dreimal beiläufig und unpathetisch das schöne Horváth-Zitat aus Kasimir und Karoline in den Mund nimmt, bleibt im luftleeren Raum zurück: „Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich - aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als wär man nie dabei gewesen.“ Ob Ella glücklich wird, interessiert die Inszenierung nicht. Es ist, als wäre sie nie dabei gewesen…