Fahren, Schweigen, Sein
Spät war er losgefahren, der Rezensent, und dann war auch noch der Tank leer. So ballerte er mit 180 Sachen über die Autobahn, um pünktlich zum Anpfiff da zu sein. „PAUSE“ prangte beim Einlass auf dem Videoscreen - welch ein ironischer Kommentar gegenüber dem notorischen Zuspätkommer. Und dann kam auch noch diese Öko-Frau auf die Bühne, die dem Rezensenten nochmal eins einschenkte. Aber davon später.
„PAUSE“ bezieht sich natürlich auf den Titel des Stücks: fünf minuten stille fordert der Mann im grün-goldenen Barockkostüm mit angedeuteter Allonge-Perücke. Einfach mal dem Wind im Kornfeld lauschen oder den Vögeln im Geäst. Dann würde es uns in dieser lauten, überdrehten Welt schon besser gehen. Und da Luc Schneider so ein netter Kerl ist, halten wir alle die Klappe. Prompt schneit Jonas Dumke herein, auch so ein supernetter Typ im Braunhemd mit roter Armbinde. Fünf Minuten Stille – da ist er sofort dabei: „Einfach mal aushalten.“ – Der erste Versuch ist schon mal schief gegangen, und der Rezensent hat wieder eine Watsche abgekriegt: Seine Eltern hatten mit dem damals Fünfjährigen dasselbe Experiment gestartet, und der Schreiber dieser Zeilen, damals des Schreibens allenfalls in Ansätzen mächtig, war kläglich gescheitert. Im Theater Aachen poltert zu Beginn des zweiten Versuchs eine Zuspätkommerin durch den Saal, um vernehmlich ihren Sitzplatz zu suchen. Dann endlich genießen Schneider und Dumke die Pause. Das Aachener Premierenpublikum ist super diszipliniert. „Man könnte eine Stecknadel fallen hören“, sagt Allonge. Mitten in die Stille hinein. Und Braunhemd fragt: „Haben Sie eine Nadel dabei?“ - Das Publikum prustet.
Natürlich wird es in den kommenden 80 Minuten nicht ein einziges Mal gelingen, „einfach mal fünf Minuten die Fresse zu halten“. Stattdessen wird die Situation immer absurder. Ionescos kahle Sängerin könnte noch was lernen von den Dialogen, die sich bald entspinnen. Braunhemd erzählt von seiner Anreise über die Autobahn, was prompt Stirnrunzeln auslöst. Die Autobahn ist zeitökonomisch, aber unökologisch. Doch es gibt keinen Grund zu meckern, denn Braunhemd hat gar kein Auto. Das hat zudem nur eine Tür und ist eigentlich ein vom Vater geliehener oder geerbter Oldtimer. Ein dunkelblauer Mercedes SL Pagode, um es genau zu sagen. Irgendwie sind hier übersinnliche Kräfte im Spiel: An der Waschanlage war ich gerade mit dem Besitzer eines 1996er Mercedes SL Cabrio mit 12 Zylindern und mehr als 400 PS ins Gespräch gekommen. Mit dem führe sogar das Öko-Huhn gern mit, das bald auf die Bühne wackelt.
Bei Autor Leo Meier haben die Figuren weder Geschlecht noch Namen, sondern sie sind in der Reihenfolge ihres Auftritts von Eins bis Drei durchnummeriert. Wir nennen sie der Einfachheit halber mit den Namen der Kostüme, in denen wir sie kennengelernt haben. Luise Berndt ist Nummer „Drei“, hat einen roten Hühnerkamm auf dem Schädel, schlägt mit den Flügeln und macht ansonsten auf ziemlich radikalen Umweltschützer. Auto ist bääh, Drahtesel gut, Fußmarsch noch besser. Sie schwärmt von ihrem Flug nach Australien und empfiehlt dringend das "Work and Travel"-Programm: „Bereist die Welt, solange ihr noch jung seid!“ Und: Mit 180 Sachen über die Autobahn zu ballern, das gehe ja gar nicht. Als „Hodenkobold“ beschimpft sie den eintürigen Autofahrer mit dem hochtourigen Oldtimer. Eigentlich meint sie wahrscheinlich mich. Nummer Drei ist halt ein dummes Huhn! – In den hinteren Reihen des Parketts sitzt in der Premiere übrigens eine Zuschauerin, die ihrem Vergnügen wie wir alle durch lautes Lachen Ausdruck verleiht. Bloß: Die lacht nicht, die gackert. Was ist hier eigentlich los?
Die drei Protagonisten sind sämtlich gutwillig. Doch mehrfach wechseln die Koalitionen. Inzwischen haben alle ihre Vorzeige-Klamotten abgelegt. Sie tragen nun verschiedenfarbige, aber modellgleiche Pyjamas. Dumke, der sich ebenso wie Berndt ständig um Kopf und Kragen redet, berichtet, wie er an seinen Oldtimer geraten ist: Das Auto gehörte Papa, dem in Australien ein Hai den Kopf abgebissen hat. Papa ist noch ein bisschen weitergefahren, aber dann ging’s wohl nicht mehr. Wieso Dumke ihn mit dem eintürigen Auto im deutschen Krankenhaus besuchen wollte? Fragen Sie nicht so viel! Schneider kriegt jedenfalls einen Lachkrampf, als er hört, dass der beim Zusammenstoß mit einem Hai havarierte Oldtimer-Fahrer auf den Namen Hai-ner hörte. Da reagiert der sonst stets schuldbewusste Hodenkobold sauer und koaliert lieber mit dem Huhn, das nun voller Mitleid ist und mal mit dem Pagode-Oldie mitreisen möchte: „Fahren, Schweigen, Sein“, seufzt sie.
Nur mal kurz die Welt retten – mit fünf Minuten Stille und lauter, nicht lauten Mitmenschen, die langsam Autofahren. Vielleicht noch mit Gedichten über glückliche Meisen und weite Ebenen. Oder mit hochbegabten Blagen und dem Lehrbuch „Mathematik mit Flipsy und Böpsy.“ In den drei naiven, aber sympathischen Typen auf der Bühne mag man durchaus den einen oder anderen Zeitgenossen aus dem Bekanntenkreis entdecken, der mit unterkomplexen Phrasen und Parolen kaum unterfütterte Ideologien und Ratschläge in die Welt hinausposaunt. Leo Meier hat eine wunderbar groteske Farce geschrieben, aus der das ausgezeichnete Aachener Ensemble ein Feuerwerk an Pointen schlägt. Aber Meier hat auch dem Volk aufs Maul geschaut und die Oberflächlichkeit der Gesellschaft in ihren naiven, aber inkonsistenten Versuchen, gut und verantwortungsbewusst zu handeln, aufgespießt. Regisseur Lucien Strauch inszeniert mit perfektem Timing und Gespür für die Musikalität und den Rhythmus des Texts. Auch als Kostümbildner nimmt er die Absurdität des Texts kongenial auf. Schnell wird das Publikum in einen Gute-Laune-Modus versetzt. Es ist legitim, die Inszenierung als großartiges, leichtfüßiges, toll komponiertes Unterhaltungs-Theater zu genießen. Aber man verpasst dann den Kipp-Punkt.
Diesen Figuren, die wenig zu sagen haben, aber auch nicht schweigen können, würden wir ungern unsere Zukunft anvertrauen. Bei einem weiteren vergeblichen Schweige-Versuch laufen und tänzeln die drei nervösen Figuren herum, als würden sie sämtlich an ADHS leiden. Bald ist konsequenterweise auch von Ängsten die Rede. Der größte Fehler, den man machen könne, sei Angst zu haben, Fehler zu machen, heißt es. In Aachen klingt das nicht nach allzu viel Selbstbewusstsein. Der rätselhafte Schluss mit Puppen und Zombies sieht witzig aus wie die ganze Inszenierung. Aber ist er nicht letztlich beunruhigend? – Away with melancholy, Hauptsache, das Huhn kriegt sein Flugzeug noch.