Eine Berliner Zweck-WG als Brennglas auf Krisen der Gegenwart
„Also theoretisch wäre das ja so, man würde Dialoge haben und man würde die ganze Zeit Schreie und Bomben im Hintergrund hören. Was wir natürlich nicht machen. Aber für mich, in meinem Kopf, ist dieser Sound immer da“, erfahren wir später. Doch vorerst, 15 Minuten über die Zeit, schauen wir nur auf einen tristen schwarzen Vorhang. Endlich schleppt sich aus dem Publikum eine Figur auf die Bühne. Gellende Hilfeschreie ertönen, bevor der Vorhang fällt.
Auf der Bühne wälzt sich in schwarzen Schlabbershorts und weißlichem Trikothemd ein Mann, brüllt: „Sag es!“, antwortet sich scheinbar selbst: „Was denn?“ Das ganze wiederholt sich, dazu in ohrenbetäubender Lautstärke die Punker von Slime mit Zu kalt. „Selten habt ihr michverstanden“, heißt es da und stimmt uns ein in die Verlorenheit des Stücks. Verzweifelt stürzt sich der Mann ins Wasser des Pools mitten auf der Bühne, taucht wieder auf, wiederholt das ganze mehrfach, greift nach einem Messer und ritzt sich Wunden in Brust und Arme. Das Theaterblut spritzt. Blutüberströmt fragt er: „Wie hat denn alles begonnen?“ Greift 560 Millionen Jahre zurück, als die Welt noch menschenleer und (nach seiner Meinung) gewaltfrei war, bevor der Mensch kam, Werkzeuge aus Stein schuf und damit die Gewalt brachte. Die Macht und Kraft dieses Ursprungmaterials ist auf der Bühne gleich mehrfach in meterhohen Steintürmen demonstriert, die aus riesigen Brocken aufgeschichtet an die archaischen Steintalismane erinnern, denen in vielen Kulturen magische Kräfte gegen böse Geister zugeschrieben wurden.
Anna Viebrocks Bühne dreht sich, ein schlichter Bungalow mit mehreren Räumen erscheint.Unser Protagonist taucht wieder auf, schnell umgezogen, jetzt in einem senkrecht halbierten Bademantel, eine Seite hell, eine dunkel gemustert. Das mag andeuten, dass dieser Abend Grund zum Lachen und zum Weinen bietet, dass es Witz und Melancholie geben wird. Das Großartige dabei ist, dass alles von einem einzigen virtuosen Schauspieler ausgelöst wird, der in grandiosem Rollenwechsel alle Personen und alle Stimmungen präsentiert: Fabian Hinrichs. Da gibt es zunächst vier WG-Mitglieder: Paul, Stefan, Claudia und ein viertes, nicht genau benanntes. Vielleicht der telefonisch betreute, abwesende Thomas, der mit einer Sepsis dringend zum Arzt müsste, sich aber offensichtlich weigert. Oder der namenlose Erzähler, denn ab und an schlüpft Fabian Hinrichs in einen bodenlangen schwarzen Mantel, wendet sich direkt ans Publikum und gibt einen fast würdevollen Erzähler.
Die Stimmung in der WG wechselt schlagartig, mal liegt einer der Männer mit Claudia im Bett, mal fordert er sie auf, sich auszuziehen, weil er sie nicht mehr erträgt. Oder er baut aus großen Paketen eine Trennwand mitten durch die Wohnung, wobei die Pakete von einem Mann in Post-Uniform (natürlich auch Fabian Hinrichs) angeschleppt werden. Bei den oft streitigen Diskussionen um Leben und Tod, um Krieg und Frieden tragen Stefan eine dunkelgerandete Brille und Claudia einen Schal um die Schulter.
Wir hören von den unterschiedlichen Kindheiten, trunksüchtigem Vater, Geldnöten und Einsamkeit. Dazwischen gibt’s Kinderwitze von Herrn Niemand und Frau Doof und anderen. Gelacht wird allerdings nicht nur bei Witzen, es ist die alltägliche Skurrilität, die das Publikum amüsiert - für mich ist das nicht immer nachvollziehbar. Doch trotz allen Amüsements bleibt das Fazit (wohl an Becketts Glückliche Tage angelehnt): „Das war kein glücklicher Tag in der WG“. Ans Publikum gewendet fasst es der Erzähler zusammen: „Ich sterbe unter unvorstellbaren Qualen. Ich lebe unter unvorstellbaren Qualen. Ich arbeite unter unvorstellbaren Qualen. Ich liebe unter unvorstellbaren Qualen“. Paul erhofft sich zwar noch von den kurzen Tipps des sprechenden KI-Kühlschranks Bigsby Rat und Hilfe, doch vergeblich. Er resümiert: „Ich hab mich satt. Ich sterbe in Einsamkeit und in Scheiße, Claudia“. Eine allgemeine Lebensüberdrüssigkeit, die sich nicht schlüssig aus dem Dargebotenen ergibt.
Dennoch: Fabian Hinrichs legt sich hin zum Sterben. „Wenn der Mensch allein ist, wird er verrückt“, hören wir. Doch wer legt sich da zum Sterben? Ist es einer der WG-Leute, zerfressen von Selbsthass und Verzweiflung, oder stirbt da eine zerrüttete, fehlgeschlagene Gemeinschaft, vielleicht gar die ganze, gescheiterte Gesellschaft?
Aus dem Off tönt die zweite von SchumannsGeistervariationen (das letzte Werkvor seinem tragischen Schaffensende).Zehn junge Leute, Statisten und Statistinnen, erscheinen, stellen sich namentlich vor: „Ich heiße …und wie heißt du?“ Sie bilden einen Kreis um den Toten, legen sich behutsam über den Körper am Boden. Ein lebendes Grab. Ein Hoffnungsschimmer?
Auf diese schwermütige Szene folgt dann doch noch ein maßvoller Scherz: Eine Kerze fragt die andere, was sie am Abend vorhabe. Die Antwort: „Ich gehe aus.“
So endet dieses etwas uneinsichtige Solo um Weltschmerz, Einsamkeit und Tod, das zwischen Kinderwitzen, Boulevard-WG-Typusund Trauerspiel changiert, am Ende mit einem Lacher.
Zwei Wochen nach der Uraufführung dieses Überforderungs-Oratoriums starb René Pollesch, der als Autor und Regisseur das Stück gemeinsam mit Fabian Hinrichs erarbeitete und hinterließ damit - gleichsam als Vermächtnis - das bittere Resümee, dassnichts okay sei. Man muss dieses Fazit seiner postdramatischen Sicht auf die Zeit nicht teilen und nicht bei jedem Lacher mitlachen, doch hinterlässt er uns mit seinen über zweihundert - meist relativ kurzen Stücken - ein grandioses, eigenwilliges, ungewöhnlich kunstvolles Werk.
Das Stück Ja nichts ist ok wurde in diesem Jahr zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen. Die Jury sah darin eine „Berliner Zweck-WG als Brennglas auf Krisen der Gegenwart“.