Übrigens …

Doping im Mülheimer Theatertage

Verwundbarkeit als Normalfall

Zur Eröffnung der 50. Mülheimer Theatertage gibt’s vier Begrüßungsreden. Dann schwingt sich ein junger Mann in grauem Dreiteiler auf die Bühne, beklagt, der fünfte Redner zu sein und stellt sich vor als „Lütje Wesel, Spitzenkandidat des FDP Ortsverbandes Wenningstedt-Braderup, Listenplatz 1“ (bravourös gegeben von Vincent Redetzki). Aufatmen im Publikum: keine weitere Politikerrede, sondern der Stückbeginn, wenn der Vorhang auch noch zubleibt. Begeistert wirbt Lütje für den Marathonlauf auf Sylt, greift zur Bekräftigung zurück auf die griechische Mythologie mit dem 42-Kilometerlauf nach der Schlacht von Marathon. Verschweigt allerdings, dass der Überbringer der Siegesnachricht nach seinem Marathonlauf tot zusammenbrach. Auf die Zwischenrufe engagierter Pöbler aus dem Saal reagiert der engagierte Jungliberale routiniert, weist den Einwurf: „Geburtsstation statt Marathon!“ höhnisch mit dem Verweis auf die Kostenexplosion im Gesundheitswesen zurück. Doch damit fällt schon ein Stichwort des ernsten Hintergrundes dieser urkomischen Farce über Krankheit und Gesundheit, Schwäche und Stärke, über Pflegenotstand, Care-Arbeit und den bösen Neoliberalismus ganz allgemein.

Und während Lütje Wesel noch den „Highperformer“ gibt, schleicht sich unter der Einspielung des Michael-Jackson-Songs „Will You Be There“ eine Unruhe bei ihm ein, er windet sich, dann ist es zu spät. Nora Abdel-Maksoud, die Spezialistin für böse Polit-Komödien, hat ihm eine peinliche Schwäche mitgegeben: Er ist inkontinent. Es passiert und er bricht vor laufender Kamera mit nasser Hose zusammen.

Zeit für den Auftritt der anderen Highperformer: Da ist zunächst der Superkapitalist, sein Mentor und Parteifreund Ole Hagefels-Jefsen-Bohn (überzeugend: Stefan Merki), steinreich und überzeugt, dass Krankheiten nur für die Schwachen und Armen da sind – allerdings dabei übersieht, dass er selbst eine psychische Störung hat: er kann nicht vor Publikum reden. Ole und seine schwangere Tochter Jagoda (brav: Safak Sengül) - auf Listenplatz 2, mit ihren eigenen Meinungen vom Vater strickt ausgebremst – bringen den Hilflosen in die höchst dubiose Klinik „Balance“. Der Vorhang öffnet sich und gibt den Blick frei auf ein mit rotem Samt ausgeschlagenes Halbrund mit senkrechten Neonleuchtstäben und einem dekorativen Kronleuchter in der Mitte; ein Ambiente, das so gar nichts mit einem Klinikraum gemein hat. Auch der exapprobierte Arzt Dr. Bob (hinreißend komisch: Wiebke Puls) trägt keinen weißen Kittel, sondern ein poppig-buntes Phantasiekostüm. Zusammen mit seiner Lebens- und Arbeitspartnerin Gesine (selbstbewusst: Eva Bay) praktiziert er auf Grund eines zusammengebrochenen Gesundheitssystems in einem maroden U-Boot höchst kuriose Heilmethoden: sie bieten ein Krankheit-Geben und Nehmen für Geld an. Nach einer gut bezahlten Umarmung übernimmt Gesine die Krankheit des Patienten, wobei sich dann überraschend herausstellt, dass sie das Geld dringend für eine für Arme geplante Geburtenstation braucht. Der etwas wirr argumentierende Dr. Bob bezieht sich dabei auf Susan Sontags Schrift Krankheit als Metapher. Er plädiert für ein „Recht auf Schwäche“ und erklärt die Verwundbarkeit des Menschen zum „Normalfall“. Eine urkomische Persiflage auf ein marodes Gesundheitswesen, in dem sich die Patienten in ein surreales Unterwasser-Careboot begeben müssen und nicht sicher sein können, ob die Heilmethoden reale Chancen haben. Wenn das U-Boot am Ende auf einen Unterwasser-Geldberg aus Oles Schwarzgeld aufläuft, könnte es die Rettung oder das Ende des Klinikexperiments sein.

Nach dem bitterbösen Pointen-Gewitter stellt sich die Frage, ob diese kaputten Neoliberalisten in einer fiktiven Farce unbedingt einer real-existierenden Partei zugeordnet werden müssen, wie es Nora Abdel-Maksoud in ihrer FDP-Vernichtungskomödie, einem Auftragswerk der Münchner Kammerspiele, abliefert.Problematisch bei der Mülheimer Aufführung war die Akustik. Es wurde ohne Mikroports gespielt, teilweise so laut gebrüllt, dass es schwer verständlich wurde.