Übrigens …

Warten auf Godot im Ruhrfestspiele Recklinghausen

Stilles Raubein, lauter Clown

Kein Baum, nirgends. Das war schon zu Spielzeitbeginn am Schauspielhaus Bochum so, als Ulrich Rasche seine grandiose Inszenierung von Warten auf Godot auf eine kahle, rotierende Drehscheibe setzte. Kahle Drehscheibe statt von Beckett gefordertem kahlem Baum – das war ein überzeugendes Sinnbild für die Vergeblichkeit des Tuns (oder besser: Nicht-Tuns) von Wladimir und Estragon, für das Nicht-von-der-Stelle-kommen in einem sinnlosen, absurden Leben. Bei Luc Perceval am Berliner Ensemble sind es nun kahle Scheinwerfer, die die Bühne vollstellen. Zehn, fünfzehn Stück sind es mindestens - ein Wald von Lichtquellen. Falls Wladimir und Estragon die Hoffnung hegen sollten, dass diese Lichtquellen irgendwann einmal Wärme ausstrahlen werden, finden sie sich enttäuscht. Katrin Bracks so einfaches wie geniales Bühnenbild ist so kalt wie Ulrich Rasches und Frank Dittrichs Drehscheibe in Bochum, wenn nicht gar kühler: kalte Technik, fern jedes Lebens und jeder Hoffnung.

Aber es gibt eine Frau auf der Bühne. Die Besetzung mit Schauspielerinnen hat Beckett ausdrücklich untersagt. Der Autor muss jedoch keinen rächenden Geist aus der Unterwelt aussenden, weil Regisseur Perceval gegen diese Vorgabe verstoßen hat. Im Gegenteil: Mit Matthias Brandt, Paul Herwig, Jannik Mühlenweg und Oliver Kraushaar hat Perceval ein rein männliches Star-Ensemble beisammen. Auch der Bote und sogar der großartige Live-Musiker Philipp Haagen sind Männer. Aber ganz unauffällig steht die Souffleuse Antonia Schirmer rechts in einer Nische, so schlank und schwarz wie die Bühnenausstattung. Manchmal, ganz selten nur, tritt sie einen Schritt hervor und spricht Becketts Regie-Anweisungen. Verblüfft schauen Wladimir und Estragon dann auf. Da gibt jemand Anweisungen, den sie nicht kennen, den sie vielleicht nicht einmal sehen. Ist das … die Inkarnation des Unbekannten, auf den sie warten? Man kennt die verschiedenen Spekulationen, wen Beckett mit Godot gemeint haben könnte: Ist das Gott? Ist es Godot? – Erlösung versprechen sich die beiden nicht von der unerwarteten Erscheinung. Estragon wendet sich mit müdem Blick ab. Wladimir geht auf die Souffleuse zu und nimmt ihr das Skript ab - doch auch er bleibt ratlos. Im Skript zu lesen, gar Erkenntnisse daraus zu gewinnen, vermag er nicht.

Eine Erklärung für die gelegentlichen Auftritte von Frau Schirmer gibt es nicht. Warum auch? Gibt es etwa eine Erklärung für die Figur des Godot? Für das zweimalige Auftauchen des merkwürdigen Herr-und-Knecht-Gespanns Pozzo und Lucky? Nein. Und trotzdem erscheint Schirmers Auftritt zunächst einmal als interessanter Regie-Einfall, auch wenn seine Wirkung später verpufft. Es ist eine Überraschung, die im Gedächtnis bleibt. Dort werden sich auch die beiden Protagonisten einnisten. Luk Perceval hat Wladimir und Estragon als krass gegensätzliche Figuren inszeniert und die bereits vom Autor vorgenommenen charakterlichen Differenzierungen zugespitzt. Matthias Brandts Estragon ist ein Versehrter. Dass der Mann Probleme beim Schuhausziehen hat, steht schon bei Beckett, aber Brandt kann kaum laufen. Hinkend bewegt er sich fort; meist sitzt er gar nur gebeugt auf dem Boden. Er ist nicht nur fußkrank: Eine hässliche Lichtschutzbrille weist auf ein Augenleiden hin. Zudem wirkt er nicht nur körperlich eingeschränkt, sondern auch zunehmend depressiv. Und so ist Estragon bei Matthias Brandt verbal ein Raubein und härter, aggressiver als Wladimir, notgedrungen der ruhigere der beiden Protagonisten.

Paul Herwig dagegen gibt den Wladimir als Zappelphilipp. Er tänzelt, hüpft und haspelt sich durch seinen Text, verdrängt, redet sich ein, „glücklich“ zu sein - und ist doch alles andere als das. Von Becketts Humor hat Perceval in seiner Inszenierung nicht allzu viel übriggelassen, aber wenn, dann ist es Wladimir, der die Restposten von eher traurigem Witz transportiert. Oft soll das clownesk sein, doch es ist nicht immer witzig, was Perceval an Gags in seine Inszenierung einstreut: die Hosen vollzupinkeln oder aus Rüben zu pissen, reizt weder zum Lachen noch passt es zu Becketts Melancholie. Herwigs temperamentvolle, unruhige Spielweise rächt sich: Warten auf Godot funktioniert nämlich auch als Partitur, als Symphonie in Moll, als Adagio mit gelegentlichen Aufwallungen con molto espressione. Bei Perceval geht das über weite Strecken der Spielzeit verloren: Die Spielweise nimmt vielen der so berückenden wie bedrückenden nihilistischen Szenen die Kraft und den temperamentvollen Momenten den Kontrast.

Vielen, nicht allen: Pozzo und Lucky erscheinen. Auch Oliver Kraushaar gibt den Pozzo ein wenig zu outriert und forciert, so dass auch diese Szene zunächst nicht recht verfängt. Aber dann fordert Pozzo Lucky auf, seine Denkkünste zu demonstrieren, und Jannik Mühlenweg legt los mit seinem berühmten wirren Monolog, dessen Themen sich schnell im Absurden und Unverständlichen verlieren. Immer lauter wird er; bald klettert er über die Stuhllehnen im Parkett, taucht ganz oben im Rang auf, droht aus dem Obergeschoss herunter zu springen, hernieder über und auf unsere Köpfe. Pozzo versucht vergeblich, ihn einzufangen. Verstehen kann man von Luckys Monolog höchstens noch Wortfetzen, aber was ist das plötzlich für ein grandioses Spektakel! Was für eine unglaubliche Power entwickelt die Inszenierung in diesen Momenten! Wie so oft in Inszenierungen dieses Stücks sind Luckys Tanz- und Denkversuche der rauschhafte Höhepunkt des Abends.

Selbstverständlich resultiert auch das aus einem schon vom Autor gut gesetzten, aber vor allem von Mühlenweg hervorragend umgesetzten Kontrast. Kriechend an Pozzos Leine, geradezu kreatürlich gespielt, erscheint der von seinem Herrn als Schwein beschimpfte Lucky tatsächlich eher als ein solches Borstenvieh denn als Mensch. Er wird zum bedauernswerten Wesen, dem nichts Humanes mehr anhaftet. Pozzo, Wladimir und Estragon fallen derweil körperlich übereinander her; aus der Kabbelei entsteht eine traurige homoerotische Sex-Szene, die nicht von Liebe und Sehnsucht, nicht einmal von Lust zeugt, sondern nur von einer großen, endlosen Einsamkeit. Wer da den wehrlosen Estragon bedrängt und möglicherweise gar vergewaltigt, scheint aufzubegehren gegen die Ereignislosigkeit, Langeweile und Sinnlosigkeit des Daseins, wie ja auch Luckys absurder Ausbruch mutmaßlich nichts als ein verzweifeltes Aufbegehren gegen die Umstände seiner Existenz ist.

Es ist die Schlussszene, die zeigt, was aus dieser recht ambivalent herüberkommenden Aufführung hätte werden können. Erneut umklammert Wladimir Estragon. Aber diesmal liegt der Gedanke an eine Vergewaltigung fern. Herwig umarmt seinen völlig desillusionierten, verzweifelten Kumpel in einem ratlosen Versuch, ihn zu trösten. Es ist ein Bild zum Erbarmen: Da sitzen zwei verlorene Gestalten ohne Biographie und ohne Zukunft, mit nichts als einer Gegenwart, die sinnlos ist. Ganz ruhig, fast kontemplativ spricht Herwig Becketts düstere Schlusssätze. Estragon schläft ein. Er sieht aus wie ein Sterbender. Der Bote kommt. Godot nicht. „Trägt dein Herr einen Bart?“, fragt Wladimir. Ja, er trägt einen weißen Bart, lautet die Auskunft. Und er macht – nichts. Also doch Gott. Oder etwa nicht? Im Skript der Souffleuse steht nichts darüber.