Übrigens …

Zack. Eine Sinfonie im Ruhrfestspiele Recklinghausen

Gar lustig ist’s in Stalins Reich

Ein billig anmutender doppeltüriger Schrank ist das einzige Requisit der Inszenierung. Schränke spielen in russischen Dramen ja häufiger eine Rolle – man denke nur an Gajews Ode an den 100jährigen Schrank in Tschechows „Kirschgarten“. Vorhersehbar tritt der Solist und Star des Abends Wolfram Koch bald aus diesem Schrank heraus. In lilafarbenen Glitzer-Pailletten springt er durch das Gold-Lametta des Schrank-Vorhangs und macht Faxen. 80 Minuten lang wird er den Clown geben, den Zirkusartisten, den ungeschickten Balletttänzer sowie den Interpreten dadaistischer Gedichte und absurder Kürzest-Geschichten von Daniil Charms. Dadaismus ist schwer zu entschlüsseln, und so ist es auch mit den Texten des Großmeisters der Russischen Avantgarde. Koch präsentiert das Werk vorwiegend als großes Slapstick-Vergnügen. Aber wenn man Charms‘ Lebensweg kennt, findet man manch traurige, melancholische Episode an diesem Abend.

Koch also hatte sich in diesem Schrank verborgen. Aber was und wer sich nicht so alles NICHT darin verbirgt! Die Bigband von Mr. Woodley tritt ebensowenig auf wie das angekündigte komplette Ensemble von „Don Juan“, so dass Koch Nicht-Auftritte inszenieren muss. Er erzählt, was passieren sollte. Er lauscht in den Schrank hinein. Gelegentlich vernehmen wir dann von fern ein wenig Musik. Bei der Oper Die Schamlosen singt Koch sämtliche Partien lieber selber – schamlos in der Tat, mit krächzender Stimme und in rosa Damen-Schlüpfer-Rüschen. Wie ein Dilldopp springt Koch hin und her, deutet hier diese, dort jene Rolle und woanders den gesamten Chor an. Das Publikum schreit sich weg. Köstlich karikiert der Schauspieler den der musikalischen Komposition geschuldeten umständlichen Fortgang einer Opernhandlung. Er hat ja so recht. Libretti sind, wenn man sie unter literarischen Gesichtspunkten betrachtet, meist zum Fremdschämen.

Koch macht das virtuos, auch wenn seine Performance oft die Grenze zur Albernheit überschreitet. Irgendwie aber ist da immer auch Zitat: Man denkt nicht nur an Gajew oder an Zirkus, es fallen einem auch Szenen aus der Commedia dell’arte ein oder von Herbert Fritsch, man denkt an Schwitters und Jandl, an manchen Geschichten scheint sich später Wolf Wondratschek orientiert zu haben; vieles ist einfach Clownerie. Nicht immer ist das ein ästhetischer Genuss: Koch hustet und sabbert, Koch spuckt ein Gebiss in hohem Bogen gen Publikum – was will man Ästhetisches erwarten von einem Menschen, der nach eigenem Bekunden zweimal geboren wurde: einmal vier Monate zu früh, aber auf normalem Wege, einmal Monate später durch den Hintern, weil die Geburtshelfer ihn nach der Frühgeburt versehentlich ins falsche Loch zurückgeschoben haben.

Dann wieder verwandelt sich Koch in eine wunderbare Marina Iwanowna, - eine langhaarige brünette Schönheit mit furchterregenden Raubtierzähnen. In die ist er verliebt? – Nun ja, „Schönheit ist Puder über dem Grauen“, heißt es bei Elena Ferrante; Marina hat das Puder aber vergessen aufzulegen, so dass nur das Grauen übrigblieb.

Überkandidelt, exaltiert agiert Koch in vielen Momenten – um dann wieder mit dadaistischer Poesie das Publikum zum Lachen zu verführen. Peter Urban, dem 2013 verstorbenen genialen Übersetzter russischer Literatur, ist es zu verdanken, dass das Gedicht über die Herren Petrow und Kamarow auch in deutscher Sprache funktioniert, denn Urban hat nicht nur die Namen, sondern auch gleich die Fauna verändert und den surrealen Effekt des Originals eher noch gesteigert: „... PAKIN: He Krakin / komm, wir jagen Kraken! / KRAKIN: Nein, das möchte ich nicht wagen / jagen wir lieber Kakerlaken.“ – Zu meiner Studienzeit nannte man sowas „höheren Blödsinn“. Der Rezensent konnte damals das halbe Repertoire mancher Blödel-Barden auswendig, aber Daniil Charms war ihm damals noch unbekannt.

Pantomime und Slapstick nehmen einen breiten Raum in Kochs Performance ein. Da bläst er eine durchsichtige Plastiktüte auf, und schwupps, schwebt seine unmerklich darauf befestigte Perücke in die Lüfte. Es ist, als entstünde plötzlich ein Leerraum zwischen Schädeldecke und Gehirn. Natürlich lacht man. Aber vielleicht ist ein solches Bild schon ein Hinweis auf die dunkle Seite von Charms‘ Kunst, die sich vor allem in den Geschichten über die mal banalen, mal absurden, mal unterschwellig bedrohlichen fiktiven Begebenheiten aus dem Sowjetreich verstecken. Diktatoren haben keinen Humor. Schon gar nicht können sie mit spöttischen Schilderungen der Banalität, der Willkür und der mangelnden Logik des Alltags in ihren Staaten umgehen. Denn wenn dem Mann mit dem Stein im Auge auch noch ein vom Dach fallender Ziegel ins Gehirn dringt und der Betroffene lässig betont, er sei ja schon immun gegen sowas, mag das als Metapher für die Willkür des Staates gemeint sein. In der längsten Geschichte des Abends erzählt Koch von einer Professorengattin, deren Mann auf einer grotesken Reise zur Erlangung von Auskünften zu einer ihm widerfahrenden Ungerechtigkeit verstirbt und die am Ende im Irrenhaus landet. Das sei nur ein „Beispiel für die vielen Menschen, die ihren Platz im Leben nicht finden, der ihnen zusteht“, heißt es lakonisch. Wenn das keine scharfe Politkritik ist…

Auch Charms wurde als Opfer des stalinistischen Regimes 1941 in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Dort verstarb er nach wenigen Wochen. Er mag ein solches Ende vorausgesehen haben. „Ich lehne an einem Zigarettenkiosk und schaue zu, wie mein Haus niederbrennt“, zitiert Koch den russischen Dadaisten. Und nebelt sich ein mit verbranntem Papier.