Übrigens …

Fräulein Julie im Wuppertal, Theater

Implosion im Badeschaum

Ist August Strindberg eigentlich nach wie vor aktuell? Fräulein Julie - das Drama, das Strindberg im Sommer 1888 in nur zwanzig Tagen zusammenschusterte und in dem eine junge adlige Gutsbesitzertochter auf der Suche nach ein bisschen Spaß und Liebe ihren Diener rattig macht und am Ende untergeht? Fräulein Julie ist angeblich Strindbergs meist gespieltes Stück. Als psychologisches Drama über das Scheitern einer von vornherein unterschiedlich ernsthaft angegangenen Beziehung mag dies auch heute noch durchgehen, denkt man. Aber ist unsere Gesellschaft im Deutschland des 21. Jahrhunderts wirklich noch vergleichbar mit der von Strindberg beschriebenen Klassengesellschaft vor 140 Jahren?

Kommt drauf an, wen man fragt. Und damit also: Ja. Zumindest in manchen Kreisen, für viele Menschen. Sicher sind die Klassengrenzen durchlässiger geworden, die Bildungs- und Aufstiegschancen der Menschen aus den unteren sozialen Schichten deutlich größer. Chancengleichheit herzustellen, gehört heute zu den wichtigsten Zielen aller demokratischen Parteien. Und so verwundert es ein wenig, wenn in Stefan Maurers Inszenierung von Fräulein Julie am Schauspiel Wuppertal die Figur der sich in ihren Klassengrenzen einrichtenden Köchin Kristin beinahe zum rôle model wird. Man müsse doch die Welt so nehmen wie sie sei, sagt die, nimmt ein Huhn aus und scheint mit sich und der Welt zufrieden. Dass ihr Verlobter Jean mit Fräulein Julie im Séparée verschwindet, nimmt sie nicht ohne Eifersucht hin. Aber so sind die Männer. Kristin schmiedet weiter Heiratspläne.

Es ist ja nicht so, als stünde sie ihrer Herrschaft unkritisch gegenüber: „Niederreißen, das könnt ihr“, wütet sie einmal gegen die Klasse der Reichen, „aber Aufbauen?“ - Und sie diagnostiziert: „Wenn die Reichen sich gemein machen wollen, dann werden sie gemein.“ - Doch nie würde Kristin Klassengrenzen sprengen - weder nach oben noch nach unten. Dazu ist sie zu stolz, dazu ruht sie zu sehr in sich. Aber als das üble Spiel um Liebe, Macht und Erniedrigung zwischen Julie und Jean in die Katastrophe zu schlittern droht, da bedauert Kristin - Julie! Weil Jean die Klassengrenzen eingerissen hat…

Die meisten Rezensenten sind sich einig, dass Kristin, durchaus werktreu die einzige sympathische Figur in Strindbergs Dreier-Combo, am Ende die größte Verliererin der Geschichte sei. Darüber kann man trefflich streiten. Die Frau ist nicht nur die Hüterin der Moral, sondern sie verfügt - zumindest bei der großartigen Silvia Munzón López in Wuppertal - auch über Selbstbewusstsein und innere Ruhe. Sie nutzt ihr klassenkämpferisches Potential nicht aus, aber sie ist souverän. Das kann in ihrer Position durchaus eine vernünftige Überlebensstrategie sein, zumal in der unbefriedigten, unzufriedenen Welt, in der sie sich bewegt. Kristin, allen gelegentlichen Ausbrüchen gegen die ungerechten Reichen zum Trotz, bewahrt stets Contenance. Das kann man von Jean und der gemeinsamen Chefin Julie beim besten Willen nicht behaupten.

Beide, Chefin und Diener, verbergen ihre Sehnsucht nach dem Sprengen der Klassengrenzen nicht. Wobei Jean erst einmal gelockt werden will: Zunächst mokiert er sich über die mangelnde Distanz, die Fräulein Julie ihren Angestellten gegenüber hält. Wenn man Strindberg glauben will, fühlt Julie sich von Jeans Maskulinität erotisch angezogen, ist vielleicht aber auch einfach nur einsam und liebebedürftig. Die Einsamkeit der Macht dürfte es im 19. Jahrhundert kaum seltener gegeben haben als heute. Wenn man sich Nora Koenigs Julie in Wuppertal anschaut (die Schauspielerin ist Gast vom koproduzierenden Théâtre National du Luxembourg), fragt man sich allerdings, ob diese Frau überhaupt lieben kann. Ihre Sehnsüchte seien nicht in Frage gestellt, aber ein ziemlich herbes, auch intrigantes Weibsstück ist die deutlich älter als bei Strindberg wirkende Frau schon. Von Kristin erfahren wir, dass Julie ihren letzten Verlobten in die Flucht geschlagen hat, weil sie ihm im Zorn mit der Reitpeitsche eins übergezogen hat. Und wie sie Jean verführt - nein, das ist nicht schön.

Es ist ein klassischer Fall von sexueller Belästigung, wenn sie Jean zwingt, sich vor ihr umzuziehen, wenn sie - noch voll bekleidet - auf seinem Geschlecht sitzt. Die brünstige Männer-Hasserin flirtet und demütigt Jean gleichzeitig. Jean erscheint lange Zeit nur als Spielzeug in ihren Händen. Sie kokettiert mit ihrer Macht und Jeans Aufstiegsgelüsten. Damit die Aufführung gendergerecht gelesen werden kann, kehrt Regisseur Stefan Maurer in einer kurzen Szene die Geschlechterrollen um; Thomas Braus spielt dann in Julies pinkfarbener Stola. Ohnehin hat Braus die Paraderolle in dieser Inszenierung erwischt: Diener Jean nimmt eine rasante Entwicklung in den 80 Minuten der Aufführung. Thomas Braus demonstriert das überzeugend. Sein Jean, anfangs klar der Untergebene, findet schnell eine Balance zwischen Unterordnung und Widerstand, bevor er dann entschlossen und leider auch ungeschickt (weil von Julies schwer lesbaren Avancen überfordert) die Initiative in der Beziehung ergreift. Im 21. Jahrhundert, so denkt man, ließe sich eine Beziehung zwischen zwei ungleich sozialisierten Menschen wie Julie und Jean durchaus verwirklichen: Die Wuppertaler Julie kämpft gegen die ihr von ihrem Vater vermittelten Rollenerwartungen an, und der Diener erweist sich als welt- und sprachgewandt und verfügt daher über die besten Voraussetzungen für einen Aufstieg ins gehobene Bürgertum. Sogar seinen Descartes vermag er passend zu seiner Situation abzuwandeln: „Ich träume, also bin ich.“ Gemeint ist damit allerdings weniger ein Liebestraum als vielmehr der vom reichen Mann, zu dem ihn der mit Julies Geld zu realisierende Erwerb eines Hotels machen soll. Wenn er seinen nackten Oberkörper in Erwartung künftigen Wohlstands mit Dollarnoten bedeckt, dann wirkt das: prollig, nicht bürgerlich. Und als die sexuellen Schranken fallen, fallen auch die des guten Benehmens: Jean offenbart plötzlich sein brutales und erpresserisches Ich.

Augenhöhe wird in der Beziehung zwischen Jule und Jean nicht eine Sekunde lang hergestellt. Das ist ein verdammt pessimistischer Befund, wenn man ihn auf die Gegenwart überträgt. Augenhöhe hätte es wohl auch in einer Beziehung zwischen Kristin und Jean nie gegeben - diese Hoffnung auf ein alternatives Ende löst sich mit Jeans Machismo gegenüber Julie in Nichts auf. Wahrscheinlich leben noch heute die meisten Jeans und Julies in ihren Klassen-Silos. „Wissen Sie, wie die Welt aussieht von da, wo ich wohne“, herrscht Jean einmal seine Herrin an: “Wie Habichte und Falken, von denen man nie den Rücken sieht, weil sie so weit oben sind.“ Hat sich das bis heute so viel verändert? Und, mal Butter bei die Fische: Beziehungsarbeit ist eh schon hartes Brot, aber eine unterschiedliche Sozialisation der Partner verkompliziert die Herausforderung noch weiter. Auch das lässt sich aus Maurers spannender, temporeicher und sensibler Inszenierung herauslesen…

Zur endgültigen Eskalation kommt es in Wuppertal in der Badewanne. Dort kann Jean zwar den Rücken von Habichtin Julie schrubben, aber eigentlich endet der Versuch der Überwindung der Klassengrenzen tödlich. Bei Strindberg jedenfalls. Bei Maurer implodiert jegliche Hoffnung im Badeschaum. Beide Partner erkennen, dass sie verloren haben. Und warum ist das so? Schon klar: Jasager sind auf die Dauer langweilig. Aber schauen Sie sich mal die emotionale Intelligenz der beiden Damen an. Da ist die Köchin der Gutserbin um Längen überlegen. Behutsam wird sie ihren eigenen Weg der Emanzipation gehen, wetten?