Übrigens …

Der blinde Passagier im Schauspielhaus Düsseldorf

Vor die Wahl gestellt: Ein Schweinehund zu sein oder ein Held.

Die nebelverhangene Bühne füllt ein vor Anker liegendes Paketboot: Hoch oben das Oberdeck mit Brücke und Turm, darunter die engen Kajüten über dem Frachtraum, der unter dem Bühnenboden verschwindet. Alles Grau in Grau, dahinter auf der Rückwand das wogende Meer. Ein junger Mann, ernst, bleich, mit dunklen Schatten unter den Augen erhebt sich von einer Pritsche und stimmt eine wehmütige Melodie auf seinem Schifferklavier an. Irgendwo hustet jemand. Doch die Melancholie wird jäh unterbrochen von der ausgelassenen Stimmung der vom Landgang heimkehrenden Schiffsmannschaft: da ist zunächst die aufgekratzte Nina (naiv engagiert gegeben von Fnot Taddese), Schwester des verstört wirkenden jungen Mannes Carl, der völlig nervös, aufhört Akkordeon zu spielen (eindrucksvoll: Michael Fünfschilling), beide sind Kinder des Kapitäns des kleinen Frachters, Petersen, der noch nie etwas Unrechtes tat und auch nicht bereit ist, es in Zukunft zu tun. Für ihn gilt: „Gesetz ist Gesetz und Grenzen sind Grenzen.“ Behäbig pocht er auf seine Kapitänsrolle als Verantwortungsträger, und gibt doch als Vater im Ernstfall nach (überzeugend: Rainer Philippi). Dann ist da noch der Steuermann Jörgen, der um Nina freit, sich zunächst behäbig und selbstbewusst gibt, mehr und mehr jedoch abgleitet von den nur „Gehorsamen“ zu den Gefährlichen (kraftvoll: Florian Lange).

Obwohl alle in filzig-wolligem grauen Outfit seltsam aus der Zeit gefallen wirken, scheinen sie gut gelaunt, berichten von einer Verfolgungsjagd, die sie draußen beobachteten, wobei sich der Verfolgte ins eiskalte Hafenwasser stürzte und verschwand: vermutlich ins offene Meer und den sicheren Tod hinausgetrieben wurde. Die Stimmung ist locker, sie beginnen auf Musik aus dem Volksempfänger zu tanzen. Nur Carl verschwindet aufs Oberdeck und beginnt dort einen kurzen, grotesken Tanz mit einer Figur in einem opulenten roten Ballkleid. Das Rot des Kleides – das zum Schluss noch einmal auftaucht - bleibt die einzige Leuchtfarbe in dem gruseligen Grau der gesamten Ausstattung. Überhaupt ist dieser Einschub der einzig surreale Moment in der sonst so nah an der psychologischen wie politischen Realität entlang erzählten Geschichte.

Während die Düsseldorfer Aufführung offen lässt, in welchem Hafen an welcher Küste das Schiff ankert, gibt die Autorin Maria Lazar im Originaltext von 1938/39 einen Hinweis auf Deutschland, wenn sie eine „Stimme im Radio plötzlich laut und schnarrend: Im Sinne des Führers und veranlasst durch die NSDAP“ sagen lässt.

Bedrückend, wie die Regisseurin die Stimmung langsam kippen lässt. Der Text setzt dazu schon Zeichen: es fehlt ein Glas, der Wermut ist zur Hälfte geleert, ein roter Socken, der keinem gehört, taucht auf und ein Pullover von Carl fehlt. Nach und nach bemerken es alle: Da stimmt etwas nicht. Carl muss gestehen, dass er den Flüchtenden, den jüdischen Arzt Hartmann, an Bord holte und im Frachtraum versteckte. Hartmann (grandios: Mila Moinzadeh) hatte die (dänische) Schiffsflagge erkannt und auf Rettung gehofft. (Als Requisit taucht die Flagge zwar nicht auf, aber vieles weist darauf hin. Es ist das Land, in dem auch die jüdische Autorin 1933 Exil fand.)

Damit setzt die Autorin das Thema des Stückes: Da ist kein Mensch auf das Schiffgekommen, sondern ein Schicksal. Jeder der vier auf engstem Raum Zusammengepferchten, Auf- einander-Angewiesenen muss Stellung beziehen. Die Geschichte wird zur Parabel menschlicher Verantwortung, Moral und Haltung. Dabei stellt sich jedem die Frage, wieviel eigenes Risiko er zu tragen bereit ist. Maria Lazar stellt jeden von ihnen vor die Wahl: „ein Schweinehund zu sein oder ein Held“. Wenn Hartmann auch sicher ist, dass „die Menschen nicht schlecht sind. Nur sehr gehorsam“, so schwingt da zweifellos ein Zug zur resignierenden Ironie mit, den Lazar ihrem Protagonisten zubilligt. Die kleine Schiffswelt bietet alles: den jugendlichen Helden (Carl), die aufopfernde große Liebe (Nina), den Unentschiedenen, der auf Zeit und Lösung von außen setzt (Petersen) und den Schweinehund, der mit seinen Beschimpfungen des Fremden als Judenbengel längst zu den Tätern wechselte. Wobei sich Persönliches - seine toxische Eifersucht - mit politischer Radikalisierung verbindet (Jörgen). Am Ende taucht noch die grandiose Minna Wündrich in einer kleinen Rolle als Jeder-Frau auf: Die Frau des Kapitäns, die nur die Familienidylle sucht, die „gar nichts wissen“ will, weil sie das alles so gar nichts angeht - und dabei den toten Hund mehr betrauert als den Verfolgten.

Am Ende ist es Hartmann, der „mit-menschlich“ handelt und mit einem anrührenden persischen Liebeslied von Linnebaum die Chance bekommt, auf seine eigene Migrationsgeschichte als persischer Schauspieler zu verweisen.

Maria Lazar (1895-1948) gehörte als junge Autorin zur Wiener Moderne und war u.a. mit Musil, Canetti und Kokoschka befreundet. Sie war jüdischer Herkunft und emigrierte 1933 gemeinsam mit Helene Weigel und Bert Brecht nach Dänemark, später nach Schweden, wo sie sich 1948 das Leben nahm.

Viele ihrer Werke, die im Exil entstanden, landeten in der Schublade, dann später gut sortiert in zwei schwarzen Metallkisten. Unglaublich, wie vorausahnend sie in dem Stück Der blindePassagier kurz vor dem verbrecherischen Krieg die Situation wie zu einem suggestivem Warnruf konzentriert. An einer Stelle heißt es grauenvoll prophetisch: „Da sind noch Tausende, Hunderttausende, die untergehen sollen. Und es werden Millionen werden.“ Erst 2023 übergab die Enkelin der Autorin, Kathleen Dunmore, den Nachlass an die Österreichische Exilbibliothek im Literaturhaus Wien und machte es möglich, dass das Stück jetzt endlich nach fast neunzig Jahren auf die Bühne kommt.

Das Düsseldorfer Publikum war begeistert von der ergreifenden Inszenierung, die ganz ohne aktualisierende Fremdtexte und groteske Überzeichnungen auskommt. Es applaudierte mit Standing Ovation einem außergewöhnlichen Theatererlebnis.