Der Dealmaker vom Unterwasserstaat
Außerhalb des Wettbewerbs lädt das Westwind Theaterfestival für junges Publikum stets einige herausragende internationale Kinder- und Jugendtheater-Produktionen als „Showcases“ ein. Zum Abschluss des Festivals präsentiert daher die Kopergietery Gent ihre preisgekrönte Inszenierung De bleke baron. Gedacht ist die Aufführung für Menschen ab 8 Jahren. Aber da gleich im Anschluss an die Vorstellung die Preisverleihung für die aus NRW stammenden Wettbewerbs-Inszenierungen stattfindet, besteht die Mehrheit des Publikums wohl doch aus Erwachsenen. Wie leicht wir uns instrumentalisieren lassen, begreifen wir gleich zu Beginn. Marschmusik erklingt – fröhlich, überhaupt nicht martialisch. Felix und Felka stampfen tanzend hinein in die Arena, die der Bühnenbildner Michiel Soete mit einem wunderschönen Lichtkunstwerk aus bunten Neonröhren geschmückt hat. Sie lachen ihr Publikum ungeheuer sympathisch an und animieren es zum vielfachen „Gloria“-Singen: zu Lobliedern auf den Baron. Obwohl die Andeutungen über dessen Herrschafts-Methoden eindeutig zu sein scheinen, machen alle, alle mit.
Der Herrscher ist der Leiter eines Unterwasserstaats. Wie Elon Musk schießt er Tausende neuer Sterne in den Himmel, die „von großer Güte“ sind und „bestens heizen“. Und wie Donald Trump hat er eine wunderschöne Frisur und einen Körper, der so eindrucksvoll ist wie eine Kathedrale. „Die Welt ist ein Laden, und ein Laden muss laufen“, lautet das Credo des Herrschers. Spätestens seit dem 20. Januar 2025 übersetzt man das wohl mit: Staatsführung ist Dealmaking. Damit der Laden läuft, darf nur reden, wer über einen Sprechstab verfügt. Den Kindern wird allerliebst klargemacht, dass sie natürlich niemals einen Sprechstab besitzen werden. Der Einzige, der im Unterwasserstaat einen Sprechstab haben darf, ist - ja, genau! - Anna Vercammen und Joeri Cnapelinckx, also Felka und Felix, wissen auch, wie der Herrscher an den Sprechstab gekommen ist: Dereinst haben sich ein schlohweißes Einhorn und ein Waldgeist gepaart und einen Menschenknaben gezeugt. Der konnte sofort sprechen. Denn das Einhorn brach sein Horn ab, reichte es dem Neugeborenen und sprach: „Dies ist dein Sprechstab.“ Weil aber das Einhorn so schlohweiß war (vielleicht auch weil der Knabe so schamlos ist), kann der Junge noch als Erwachsener nicht erröten. Er ist zum bleichen Baron geworden.
Am Tag vor der vom Rezensenten besuchten Aufführung hat Friedrich Merz erfahren, wie das ist, wenn in einer Unterhaltung nur einer den Sprechstab in Händen hält. Aber der Kanzler hat sich ganz gut geschlagen, wie es scheint. Vercammen, die ihren Text übrigens in einem Kinderbuch-Verlag namens „De Eenhoorn“ veröffentlicht hat, und Cnapelinckx schlagen sich grandios. Ihr leider heute allzu wahres Märchen über eine Diktatur, die Migranten verfolgt, den Klimawandel leugnet, die Meinungsfreiheit unterdrückt und ausschließlich auf den persönlichen Nutzen des Autokraten ausgerichtet ist, wird empathisch mit unglaublichem Humor und großer Phantasie entwickelt. Surreal bedeutungslos und doch politisch affirmativ sind die Nachrichten von „Radio Unterwasserstaat“. Auch die Huldigungen des Diktators erscheinen surreal, wenn davon die Rede ist, dass die Naturgewalten dem Willen des Herrschers gehorchen: „Das Meer hat sich auf Befehl des Barons zurückgezogen“, heißt es einmal. Und doch: Solche Loblieder sind nicht surreal, sondern blanke Realität, wie der Schreiber dieser Zeilen bezeugen kann. Anlässlich der Besichtigung der Westmeerschleusen in der nordkoreanischen Hafenstadt Nampo war er ganz ergriffen, als er erfuhr, wie der große Führer Kim Il Sung den bedeutendsten, aber ratlosen Ingenieuren und Architekten des Landes die bahnbrechenden innovativen Kunstgriffe erläutert hatte, mit deren Hilfe man das tobende Meer in die Schranken weisen konnte. Kaum hatte der Führer nachgedacht, ließ das „tobende Meer … angesichts der schöpferischen Schaffenskraft des Menschen den Kopf hängen … Wir scheuen für unsere eindeutigen Lobeserhebungen keine Kraft. … Die internationalen Staatsoberhäupter besichtigen dieses monumentale Bauwerk (heute) um die Wette“ (Original-Mitschrift eines deutschsprachigen Propaganda-Videos in Nampo).
Ob die Jungs und Mädels von der Kopergietery auch mal die People’s Republic of Korea bereist haben? - Wie selbstverständlich wird das Naturell eines Diktators beschrieben: Er kann alles, weiß alles, hat aber Angst vor den Dichtern. Denn die sprechen zwischen den Zeilen: „Das macht dem Baron Unbehagen.“ Felka und Felix haben zwar Glück: Sie gelten nicht als Dichter, sondern als Sänger. Aber Künstler gehören grundsätzlich zu den unangenehmsten Bürgern des Unterwasserstaates, weil sie unabhängig im Denken sind. Über in den Straßen installierte Lautsprecher werden die Bevölkerung und das Theaterpublikum aufgerufen, Künstler und Menschen, „die nicht von hier sind“, zu denunzieren, mindestens aber an ihre Pflichten gegenüber dem Staat zu erinnern. Auch das entspricht übrigens den Gepflogenheiten in Nordkorea.
Felka trifft der Bann gleich doppelt: Sie ist Künstlerin und „Minderwerte“, weil „nicht von hier“. Ihr Deutsch aber ist anders als das der nordkoreanischen Propagandisten perfekt – Vercammen und Cnapelinckx haben ihre musikalische Fabel auf Flämisch, Französisch, Deutsch und Englisch im Repertoire. Ihre Sprache ist bei aller Härte der Geschichte ungeheuer poetisch und musikalisch. Wortschöpfungen machen Lachen, ebenso kleine inszenierte Missverständnisse. Die Diktatur wird in lyrische Sprache und in romantisch anmutende Lieder verpackt – einmal dröhnt Cnapelinckx auch einen tollen Hardrock Song zur E-Gitarre in die Runde, ein aufmüpfiges Lied vom Zwerg, der eine Mütze trägt. Wird Felka, die Minderwerte, am Ende doch zur Flucht gezwungen? Wird sie freiwillig oder gegen ihren Willen remigriert? Sie kann sich eine „Heimatkarte“ verdienen. Theoretisch. Mit einer zynischen Regel.
Vielleicht gehen ja die Unterwasserstaaten irgendwann zugrunde. So, wie Felka voller Harmonie und doch mit leisem Erschrecken den Klimawandel besingt: „Das Meer steigt in die Sonne – schau, das Land geht unter.“