Übrigens …

Asche

Sinnlichkeit siegt über Stringenz

Elfriede Jelinek - das ist doch die Autorin mit den unendlich langen Textflächen, die beim ersten Lesen keiner versteht? - Oh Wunder: Asche hat nur 24 Seiten. Vielleicht auch deshalb stürzen sich so viele Theater auf die jüngste literarische Schöpfung der österreichischen Nobelpreisträgerin. Das Stück feierte am 26. März 2024 an den Münchner Kammerspielen seine - umstrittene, nach Ansicht vieler Theaterkritiker eher misslungene - Uraufführung. Glaubt man den Kritiken, inszenierte Falk Richter immerhin einen grandiosen Bildersturm - auch das, so haben wir in den letzten Jahrzehnten gelernt, steckt in den meisten sich so spröde anfühlenden, zwischen großer Politik und privaten Befindlichkeiten, heutigen Skandalen und griechischen Mythen hin und her springenden Jelinek-Texten. Ob Richter Ordnung in das Textkonvolut gebracht hat, sei dahingestellt: Der Schreiber dieser Zeilen kann nicht mitreden, aber so manche Kollegen melden Zweifel an. - Am 26. März 2025, also exakt ein Jahr nach der Münchner Uraufführung, hatte das Stück in der Regie von Kamila Polivková am Schauspiel Köln Premiere. Polivková lässt keinen Zweifel an ihrem Bemühen um Ordnung. Statt großer Bilder gibt es Denkaufgaben; die Phantasie liegt in der Auseinandersetzung der in einer Art Berghütte diskutierenden vier Elemente, die alles Sein bestimmen. - Zwischendurch inszenierte Jette Steckel das Stück am Thalia Theater Hamburg. Und es gab Zirkus. Richtigen Zirkus, nicht was Sie denken. Es gab Musik, Akrobatik und Lichtkunst. Jette Steckel machte aus dem Jelinek-Text eine Kunstinstallation. Und die wurde als exemplarische, angeblich dem Text am meisten gerecht werdende Inszenierung zu den 50. Mülheimer (Jubiläums-)Theatertagen eingeladen, wo Tante Elfriede zum 23. Mal für den Mülheimer Dramatikpreis nominiert wurde. (Für die meisten der eingeladenen Autorinnen und Autoren könnte Frau Jelinek eher die Großtante sein.)

Asche sei einer von Jelineks persönlichsten Texten, ist allenthalben zu lesen. Weder die Kölner noch die Hamburger Inszenierung sind jedoch die persönlichste, heißt: dem tiefen Empfinden der Autorin am nächsten kommende Aufführung der Rezeptionsgeschichte. Diese Ehre gebührt wohl Stefan Bachmanns Inszenierung von Jelineks Winterreise vom Burgtheater Wien aus dem Jahre 2012, die der Regisseur und damalige Intendant 2018 ans Schauspiel Köln transferierte. Damals lebte Jelineks Ehemann Gottfried Hüngsberg noch. Von dem wusste man so gut wie nichts; sein Leben und seine Existenz waren in Jelineks zunehmend ihre privaten Nöte thematisierenden Arbeiten tabu. Sein Tod ist es nun nicht. In Asche spricht die Autorin nun über ihre unermessliche Trauer über den Tod des Gatten, mit dem sie mehr als 48 Jahre lang verheiratet war. Schon kurz danach hatte sie dem Verstorbenen in ihrem Stück Angabe der Person einen Altar gebaut. Jossi Wieler inszenierte am Deutschen Theater Berlin mit drei grandiosen Powerfrauen und einem weitgehend stumm am Laptop vor sich hin brütenden Bernd Moss, der für den geliebten Gatten stand. Asche thematisiert nun in todtrauriger literarischer Form den Untergang des Menschen - und zwar auf der Mikro- und auf der Makroebene. Der Text mäandert hin und her zwischen der Trauer über den Verlust des Ehemanns, bei dem die Autorin Halt fand, dem eigenen Zweifel am Sinn des Fortlebens sowie der Ratlosigkeit angesichts des Untergangs der Erde und damit des Verlusts der Lebensgrundlage des Menschen. So ist der Text eine berührende Reflexion über Verlust und Einsamkeit und gleichzeitig ein bitterböser Spott, manchmal auch eine wütende Klage über die Hybris des sich unsterblich fühlenden Menschengeschlechts. Denn das hat gedankenlos den Klimawandel verursacht und geht unverändert verantwortungslos mit der dadurch ausgelösten Bedrohungslage um. Nach Sonne und Luft gilt Asche als dritter Teil einer Trilogie, in der sich die Autorin mit den zerstörerischen Auswirkungen menschlichen Verhaltens auf Natur und Umwelt befasst.

Dem Verfall der Erde können wir in Kamila Polivkovás Inszenierung am Schauspiel Köln live zusehen: Bühnenbildner Antonin Silar hat circa 80 Prozent der Spielfläche mit Schnee bedeckt. Zu Beginn steigen Nebelschwaden von der sich nach und nach auflösenden Masse auf, später wird die weiße Fläche zunehmend schmutzig-grau und glitschig. Automatisch stellt sich der Gedanke an die abschmelzenden Eisflächen an den Polen und Gletschern ein. Bilder von verfaultem Obst und Gemüse werden an die Videowand projiziert: Zu Hause verwest der geliebte Mensch, in der Natur verwest seine gern genossene Nahrung. Die Rolle des Gottes, der „die Schicksalsfäden in der Hand hat“, ist undurchsichtig. „Gott ist alles, was der Unfall ist“, spottet Jelinek in Abwandlung des berühmten Wittgenstein-Zitats. Er spiele mit der wie ein Würfel geformten Erde Fußball, um herauszufinden, wer eigentlich im großen Spiel der Welt Verlierer sei, kommentiert Jelinek mit beißendem Spott.

Die Hamburger Aufführung hat auf einer permanent rotierenden Drehbühne den passenden perfekt gemähten Fußballrasen dazu, der allerdings anderen Sportlern zugutekommt. Grundsätzlich scheint Jelinek die Kalauer im Vergleich zu ihren grenzenlos sich ausdehnenden früheren Textflächen reduzierter eingesetzt zu haben; vielleicht hat auch die Trauer ihre Neigung zum lustvollen Sprachspiel ein wenig eingeschränkt. Obwohl: Hamburg deckt viel Sprachakrobatik auf, die in Köln untergeht. Asche wirkt nachdenklicher als viele frühere Stücke, daher aber auch abstrakter und spröder. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Natürlich sind Jelineks Sprunghaftigkeit und Assoziationskraft wiedererkennbar; bei aller handwerklichen Brillanz wirkt der Text in weiten Teilen wie ein Gedankenstrom. Mit Logik und Stringenz, so betont das Hamburger Team in der Publikumsdiskussion, käme man diesem Text nicht bei: Dann „fliege man sofort aus der Kurve.“ Genau das aber, nämlich dem Text Logik und Stringenz einzuhauchen, hat das Kölner Team versucht. Polivkovás Inszenierung merkt man immer wieder das Bemühen um Ordnung an. Die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft werden durch vier in ihrem Auftreten seht gut voneinander zu unterscheidende Schauspielerinnen und Schauspieler verkörpert und diskutieren (ab und zu durchaus humorvoll) über eine neue Schöpfung, hat doch diejenige der Götter nicht nachhaltig funktioniert. Auch die Elemente sehen sich bedroht - man denke nur an den Plastikmüll in den Ozeanen oder an die Luftverschmutzung in den Städten. Den weit überwiegenden Anteil des Texts hat in Köln die Schauspielerin Cristin König zu schultern, die die Stimme von Elfriede Jelinek verkörpert. Auch sie geht ihre Rolle eher intellektuell an, auch wenn sie dem Text ab und zu eine gewisse Musikalität abzulauschen versteht. Mit dem Abstraktionsgrad von Jelineks Text mag diese Spielweise kompatibel sein, die Rezeption dagegen wird durch diesen Angang erschwert. Kurz: Die Asche im Kölner Schauspiel glüht nicht mehr. Sie ist erkaltet und staubtrocken.

Dabei webt Jelinek - wie so oft in ihren Stücken - ein musikalisches Leitmotiv in ihre Textfläche ein. Dass sich das großartig zur Schaffung einer emotionalen Ebene nutzen lässt, beweist Jette Steckel in ihrer Hamburger Inszenierung. Immer wieder greift Jelineks Text auf Gustav Mahlers Lieder eines fahrenden Gesellen zurück. In Köln wird ein einziges Mal eines der Lieder kurz angespielt, und es wirkt dann fast wie ein Fremdkörper. In der Aufführung des Thalia Theaters singt das Ensemble gleich mehrere der Mahler-Lieder, und diese spielen manches Mal Pingpong mit Jelineks Sprechtext. Ohnehin übersetzt Matthias Jakisics meist dunkler, manchmal aber auch Hoffnung gebender filmischer Soundtrack die Inhalte von Jelineks Stück perfekt in Musik. Auch wenn Gott die Erde als Würfel geschaffen hat, ist Florian Lösches Drehbühne rund. Und sie rotiert nahezu immer. „Alles auf Anfang“ ist das Mantra von Jelineks Klage (in Köln noch stärker ausgestellt als in Hamburg). Um alles auf Anfang zu stellen, „müssen Sie Ihre Spur zurückgehen“, heißt es. Und schon gehen Steckels Schauspielerinnen und Schauspieler auf der nach vorn sich drehenden Bühne rückwärts, bis zur Erkenntnis: „Wir werden wieder Kinder sein und vor Rührung weinen.“

Der Satz wird zum Startschuss für den Clou der Inszenierung: Sieben Kinder vom Zirkus Zartinka stürmen auf die Bühne, die nun endgültig zur Manege wird. (Tatsächlich ist das Publikum auf vier Seiten um diese Bühne herumplatziert.) Sie tanzen und vollführen phantastische akrobatische Kunststücke. Wenn im Text vom Kreislauf des Lebens die Rede ist, spielen sie mit einem leuchtenden Kreis. Der Würfel wird wieder zur Metapher: Die Akrobatinnen und Akrobaten von Zartinka turnen „das beinharte Würfelspiel des wirklichen Lebens“ an einem kubusförmigen Gerät. Der Tod wird durch akrobatisches Spiel an einem großen Kreuz weniger versinnbildlicht als vielmehr erträglich gemacht und als Teil des Lebens interpretiert. Die Kinder bringen Licht in den tieftraurigen Text der Autorin, lassen einen optimistischen Ausblick zu. Denn Jelinek erzählt ja nicht nur eine Geschichte vom Untergang, sondern auch eine von den Schöpfungsmythen. Steht unsere Schöpfung vor dem Untergang? Wenn man diese Kinder sieht, ahnt man: Jedem Ende wohnt ein Anfang inne, auf jeden Untergang folgt eine neue Zukunft.

Dabei sind die grandiosen Bildschöpfungen der Kinder mal affirmativ zu Jelineks Text, mal aber auch gegenläufig. Bildschöpferisch tätig ist auch der im Programmheft ungenannte Lichtkünstler in Steckels Inszenierung, der sowohl die Zirkusmanege und ihre Performerinnen und Performer als auch die ungeheuer phantasievollen Kostüme der Schauspielerinnen und Schauspieler immer wieder neu ausleuchtet und geradezu süchtig machende Stimmungen schafft. Barbara Nüsse, die 82jährige Grande Dame des Thalia Theaters, wird am letzten Tag der Mülheimer Theatertage mit dem Gordana-Kosanovic-Preis der Fördervereins des Theaters an der Ruhr ausgezeichnet werden, der jährlich an einen durch besondere darstellerische Leistungen ins Auge fallenden Schauspieler (resp. eine Schauspielerin) der gastierenden Ensembles verliehen wird. Nüsse spielt jung, Nüsse spielt alt, Nüsse spielt humorvoll. Der Schalk blitzt ihr aus den Augen, und Sekunden später zeigt sie die ganze Depression und Verzweiflung der verwitweten Autorin. Und manchmal denkt man, Nüsse zitiert etwas, von dem kein Mensch in Hamburg etwas wissen wird: Wenn sie trauernd und verwirrt, sich zusammenreißend und wappnend gegen eine See von Plagen durch die Manege taumelt, dann glaubt man plötzlich, die 66jährige Barbara Nüsse als König Lear in Karin Beiers Kölner Shakespeare-Inszenierung aus der Spielzeit 2009/2010 vor sich zu sehen. „Nicht nur den Verfall einer Familiendynastie, sondern … vielleicht gar den Untergang der Welt“ glaubte der Rezensent damals zu sehen. Das ist doch das Jelinek-Thema? - Tja, so ist das mit dem Kreislauf von Schöpfung und Zerstörung…

So fährt denn Jette Steckels Asche-Inszenierung einen Kantersieg gegen die Kölner Aufführung ein. Sinnlichkeit siegt gegen stringente Gedankenführung. Wieder einmal zeigt sich: Stimmungsbilder vermögen Inhalte nahezu genauso gut zu transportieren wie logische Argumente. Asche gewann aus nachvollziehbaren Gründen nicht den Mülheimer Dramatikpreis, aber Jette Steckels Gesamtkunstwerk war die mit Abstand begeisterndste Inszenierung des Festivals.