Lasst uns eine Partie Freundschaft spielen
Wenn Sie die Auffassung des Rezensenten teilen, dass Fußball und Theater eigentlich dasselbe sind, werden Sie sich an den 31. August 1993 erinnern. Werfen Sie doch mal einen nostalgischen Blick zurück:
https://www.sportschau.de/video/video-okocha-traumtor-jahrestag-100.html .
Unfassbar, oder? Bis heute ist Jay-Jay Okocha in Frankfurt eine Fußball-Ikone. Auch wer nach 1993 geboren ist, kennt die Szene, in der der geniale Nigerianer gleich mehrfach Oliver Kahn austanzte. Cem, die beiden Jürgens und Noah-Wilhelm schauen sich die Szene in der Sportschau an und jubeln. Ansonsten spielt Okocha in Bonn Parks für den Mülheimer Dramatikpreis nominiertem Stück keine Rolle. In Mülheim hängt nicht einmal sein lebensgroßes Abbild an der Wand des quietschbunten Kinderzimmers, denn im Ringlokschuppen haftet es nicht. In Frankfurt ist es die ganze Spieldauer über zu sehen. Als Deko. Aber vielleicht steht es ja doch für mehr?
Bonn Park wollte nach eigener Aussage nur ein Stück über Nostalgie schreiben. Für einen waschechten Frankfurter ist das Gedenken an Okochas Jahrhunderttor dafür ein klassischer Anlass. Wenn wir mit Cem, den beiden Jürgens und Noah-Wilhelm zurückblicken auf ihr Leben, dann ist auch das nostalgisch aufgeladen. Denn wir blicken auf die Ära von „Alles ist gut.“ Okochas Tor war sehr gut. Und sonst? Wie war das sonst 1993? Es waren die Jahre kurz nach der Wende; der Kalte Krieg war vorüber, die Demokratie hatte gesiegt und sich als das stabilste politische System durchgesetzt, der Europäische Binnenmarkt entstand und die Globalisierung sorgte für Wirtschaftswachstum und Wohlstand. Aus der Perspektive der destabilisierten Welt des Jahres 2025 gibt es allemal Grund zur Nostalgie. Doch den Kindern anderer Generationen geht es nicht anders. Wer blickt nicht nostalgisch auf die eigene Kindheit zurück?
Cem, die beiden Jürgens und Noah-Wilhelm, von Kostümbildnerin Leonie Falke allerliebst in kurze Hosen und Kniestrümpfe gesteckt, schalten von Okochas Traumtor unmittelbar auf harmlos-naive Kindersendungen um. „Lasst uns eine Partie Freundschaft spielen“, heißt es bald. Die Partie Freundschaft soll ein Leben lang halten. Doch da die vier von erwachsenen Schauspielerinnen und Schauspielern gespielt werden, klingt das Wissen um die Labilität von Freundschaft und um den drohenden Verlust des unbeschwerten Glücks immer wieder durch. „In welcher Ära leben wir denn jetzt?“, vergewissern sich die Kinder. Noch ist es die Ära von „Alles ist gut.“ Aber wann haben die Kinder der 1990er im Speziellen und wir alle im Allgemeinen den Glauben verloren, in einer Welt zu leben, in der alles gut ist? Schon im jüngsten Alter spüren sie: Die Großen sind gemein. Und sie ahnen: Auch sie werden irgendwann zu den Großen gehören. Werden sie dann noch eine Partie Freundschaft miteinander spielen?
Mit dem für ihn typischen Witz hat Bonn Park die drei Akte seines komödiantisch-melancholischen Dramas mit „Kindheit“, Pubertät+“ und „Rest“ überschrieben. Der Kindheit gehört der zeitlich größte Anteil des 90minütigen Abends. Lioba Kippe, Jannik Mühlenweg, Arash Nayebbandi und André Meyer zaubern eine wunderbare Naivität in ihre Gesichter. Schon jetzt zeigen sich charakterliche Unterschiede: Cem (Lioba Kippe) hat die meiste Phantasie im Erfinden und Vorschlagen von Spielen – sein Repertoire reicht von „Kaufladen“ über „Jugendamt oder arme Kinder“ bis „Der ganze Boden ist Lava“. Er ist auch derjenige, der „Freundschaft“ definiert: als „sich nicht gegenseitig töten“, „zusammen durchs Weltall fliegen“ oder „gegenseitig die Beerdigung besuchen“. Und, was für eine wunderbare Definition, als „Feind von Einsamkeit und Verrat.“ Über Cems Glück scheint allerdings ein Schatten zu liegen. In seinen Aufzählungen von Freundschaftsdefinitionen und Spielideen findet sich alles, was Parks Stück ausmacht: Humor, Träumerei, Naivität und immer wieder (vor allem in Zwischentexten) auch eine wundervolle Poesie. Diese Poesie kann allerdings schnell in dystopische Schilderungen umschlagen.
Jannik Mühlenweg ist Jürgen A. Wenn Jürgen spielt, verliert er sich vollständig in seiner Rolle. Was für eine beängstigende Dramatik liegt in seinem Lava-Spiel! Da zieht sich der sensible Cem lieber zurück. Was für eine radikale Prinzessin spielt Jürgen beim Verkleidungsspiel! Und mit welcher Suggestionskraft nähert er sich unter Verletzung der persönlichen Distanz seinem Namensvetter Jürgen D. (Arash Nayebbandi), um ihm den Unsinn der diesem von seinen Eltern aufoktroyierten Beschränkung der täglichen Fernsehzeit zu erläutern. „Eine Minute zu viel, und du wirst dumm wie ein Tier!“, hatte Jürgen D. seinem Namensvetter gedroht. Da flippt Jürgen A. aus… - Noah-Wilhelm ist bei André Meyer der schwerste der vier Freunde – und der ruhigste. Er wird Karriere machen, ohne glücklich zu werden.
Selbstverständlich gibt es Kräche unter den Kindern. Aber schnell gibt man sich die Hand und versöhnt sich wieder. Die Kindheit ist die Ära „Alles wird gut“. Doch irgendwann finden die Kinder den Schlüssel zum Arbeitszimmer – und damit zum Erwachsenwerden. In „Pubertät+“ treten die vier mit billigen Lederjacken-Imitationen und bombastisch-lächerlichen Haartollen auf, prahlen mit ihren Muskeln, ihren Sperma- und ihren Bettgeschichten. Total witzig sind diese Texte; doch rechts steht das Tor einer Geisterbahn namens „Blick in die Zukunft“, einer Fratze mit glühenden Augen aus der Nase quillendem Rauch. Doppelbödig sind diese Bilder, denn hinter dem Witz liegen Ängste und Leid. Vor dem Blick in die Zukunft haben alle panische Angst. Ist es „das Jahr, als noch alles in Ordnung war“? Oder ist es die Ära von „alles ist gut und besser kann es nur später werden“? Cem jedenfalls, der erneut die düstersten Gedanken hat, will „schnell Bundeskanzler werden und alles besser machen.“
Bundeskanzler wird später Noah-Wilhelm. Alle sind erwachsen, alle sind überfordert. Die Papiere quillen aus ihren Aktentaschen, die Anzüge, die die Wichtigkeit der heutigen Stützen der Gesellschaft versinnbildlichen sollen, schlottern ihnen um die Körper. Cem, die beiden Jürgens und Noah-Wilhelm können die von ihnen verlangten Rollen nicht ausfüllen. Der Bundeskanzler leidet. Und erneut stimmt das, was witzig rüberkommt, ausgesprochen nachdenklich. Der Jammerlappen von Bundeskanzler zählt seine Probleme auf. Es sind die realen Probleme eines jeden Bundeskanzlers, einer jeden Regierung: Krieg und sauberes Trinkwasser, die Verspätungen der Bahn und die langen Schlangen an der Supermarktkasse, die Gesundheitsversorgung. Es sind banale Probleme und die großen Fragen der Menschheit, persönliche Befindlichkeiten und politische Konflikte. Man muss da nicht mitlachen. Es wird einem klar: Keine Regierung gleich welcher Couleur kann diese Vielzahl an Problemen gleichzeitig angehen – und erst recht kann keine Regierung gleich welcher Couleur all diese Probleme zur Zufriedenheit lösen. Und so wird Bundeskanzler Noah-Wilhelm von allen gehasst. „Ausländer raus“, rufen die Hilflosen, die auch keine Problemlösung haben. So wie Jürgen A., die einstige radikale Prinzessin.
Cem erinnert sich noch an Okocha, aber kaum einer erinnert sich an die frühere Freundschaft. Ob sie zu retten ist? Der Pianist Ben Roessler, der die gesamte Vorstellung in einer merkwürdigen schwarzen Kutte am Klavier begleitet hatte und irgendwann verschwunden war, kommt an der Hand von Cem auf die Bühne. Erstmals sehen wir ihn von vorne…