Übrigens …

Es ist nie Sommer im Ruhrgebiet im Theater Münster

Auf den Spuren der Geflüchteten

Ein Mann macht sich auf den Weg. Mit dem Fahrrad von Münster nach Recklinghausen, aber auch in Gedanken von Berlin nach Buenos Aires. Über den Atlantik nämlich führte der Lebensweg seiner Urgroßmutter, der in Recklinghausen geborenen Jüdin Julia Studinski. Ihre Eltern blieben 1939 in Berlin zurück, Vater Jacob wurde in einem Lager in Minsk ermordet. Auf Julias Spuren hat sich nun Guido Wertheimer für sein Stück Es ist nie Sommer im Ruhrgebiet begeben – als Urenkel in Argentinien aufgewachsen, spürte er bei seiner Auftragsarbeit für das Theater Münster staunenswerte Zusammenhänge zwischen den Taten der Nationalsozialisten in Münster und der Geschichte seiner Familie auf.

Bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen ist das Stück uraufgeführt worden. Erarbeitet wurde es indes für die kleinste Bühne des Theaters Münster, das Studio. Dort kommen die beiden Schauspieler Pascal Riedel und Daryna Mavlenko dem Publikum naturgemäß viel näher. Eine Distanz allerdings entsteht bei den ersten Spielszenen der 80-minütigen Aufführung durch den trennenden, wellig herabhängenden Gazeschleier. Er verschwindet erst, wenn Riedel als Ich-Erzähler im dritten Teil seine Fahrradreise antritt, die ihn aus der Gegenwart seiner Recherche in Münster zum Ausgangspunkt der historischen Handlung nach Recklinghausen führt.

Der erste Teil hat den Charakter eines dokumentarischen Vortrags: Aus dem Off erläutert Autor und Regisseur Wertheimer sein Projekt, und das Schauspielerduo berichtet zu eingeblendeten historischen Fotos von der Ordnungspolizei in der münsterschen Villa ten Hompel oder vom Pogrom 1938, bei dem der Rabbiner Fritz Steinthal gequält wurde. Auch er floh nach Argentinien und spielte wohl später in Julia Studinskis Familie eine Rolle. Die Ermordung von Julias Vater wiederum hat mit einem Nationalsozialisten zu tun, der sowohl Deportationen filmte als auch idyllische Szenen aus dem eigenen Familienleben. Bilder, die sich im münsterschen Archiv fanden.

Diesem Recherchematerial gewinnt Guido Wertheimer im zweiten und dritten Teil unerwartet poetische Spielszenen ab. In bisweilen seltsam schrägen Dialogen zwischen Julia und Jacob geht es besonders um die Liebe des jungen Mädchens zur Musik Frédéric Chopins und den Plan des stolzen Vaters, ihr von den Einkünften aus seinem Schuhgeschäft einen Steinway-Flügel zu kaufen. Das Instrument schaffte in der historischen Realität den Weg nach Argentinien nicht, sondern ruht mutmaßlich auf dem Grund des Ozeans – was Wertheimer zur Quelle mancher Wasser-Metapher des Stücks macht. Rätselhaft erscheint das Ausbleiben der stets angekündigten Mutter, kurios sind die Tagträumereien Julias, die mehrmals einen geheimnisvollen Hirsch auftauchen sieht und aus dem Dunkel fordert, jemand möge das Licht einschalten. „Die Hirsche und die Mädchen sind traurige Tiere“, versichert sie ihrem Vater. Der wiederum möchte seiner etwas entrückten Tochter ein schönes Leben bescheren, wozu auch der erträumte Ausflug mit einem Zeppelin gehört.

Zu den Leitmotiven des Textes gehört der Sommerregen, der den Autor/Erzähler im dritten Teil bei seiner Fahrradreise von Münster nach Recklinghausen begleitet. Dass Fahrradreise und Rückkehr mit der Bahn zugleich den Blick auf Zusammenhänge zwischen früheren und heutigen Schrecknissen werfen, führt zurück zum harten Kern des Stücks. Bei der Aufführung im Münster sind diese Szenen, zu denen Mavlenko zu eigenem E-Bass-Spiel singt, nicht so gut ausbalanciert wie bei der Uraufführung, so dass Riedels empathisch vorgetragene Reiseerzählung weniger gut zu verfolgen ist.

Eine Erzählung der ukrainischen Schauspielerin Daryna Mavlenko aus Kiew über die Nacht des ersten russischen Angriffs fügt sich beklemmend gut ein: Die Intensität der Schauspielerin wirkt in Münster stärker als in Recklinghausen. Großer Applaus für ein etwas heterogenes Stück – wie schon nach der Uraufführung bei den Ruhrfestspielen.