Übrigens …

Der Gipfel im Ruhrfestspiele Recklinghausen

Qualm aus dem Erste-Hilfe-Kasten

Gott hat wenig Phantasie“, heißt es einmal in der Aufführung. Christoph Marthaler hat eine Menge davon. Wenn man Glück hat, variiert er seine Einfälle aus den 1990er Jahren, als er mit Murx den Europäer oder Stunde Null oder Die Kunst des Servierens seinen Durchbruch im deutschsprachigen Theater feierte und zu einem der großen Innovatoren der Theatersprache wurde. „Mathaleresk“ wurde beinahe zum Genre-Begriff - darunter verstand man eine ganz spezielle Verbindung von Absurdität, Humor und Melancholie. In verfallenden, hermetischen Wartesälen schliefen, sangen und summten freundliche, verlangsamt agierende Menschen, an denen die Zeit längst vorüber gegangen war. Oftmals gehörten zur Ausstattung der Bühnenbilder, die damals stets von Anna Viebrock entworfen wurden, Aufzüge. Die suggerierten den Kontakt zu einer Außenwelt, die mutmaßlich genauso grau und geisterhaft war wie die Gestalten, die die Bühne bevölkerten. Was Marthaler schuf, war eine Art Nachfolge des Absurden Theaters, doch natürlich versteckte sich - wie beim Absurden Theater der Nachkriegszeit - dahinter ein zu dechiffrierender Gedanke. Doch auch wenn man ihn nicht entschlüsseln konnte, machten Marthaler-Aufführungen süchtig. Würde Der Gipfel, der jetzt knapp vier Wochen nach der Uraufführung am Piccolo Teatro di Milano seine deutsche Erstaufführung bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen feierte, wieder ein klassischer Marthaler werden?

Er wurde. Die Aufführung gestaltet sich ein wenig unruhiger als Murx“oder Die Stunde Null. Geschlafen wird eher selten, und gesungen wird etwas temperamentvoller als in den 1990ern. Diesmal ist es kein Personen-, sondern ein Lastenaufzug, der in der Berghütte des Alpengipfels die Menschen mit dem Notwendigsten versorgt - ein kleiner Speiseaufzug, ein Dumbwaiter. Da die Berghütte keinen anderen Ein- und Ausgang zu besitzen scheint, purzelt zunächst einmal Marthalers Personal aus dem Loch, angetan und ausgestattet mit Gamsbart und Trachtenjoppe, Filzhut und Wanderstock. Fehlende Utensilien wird der Speiseaufzug alsbald nachliefern. Genauso wie, adrett nebeneinander platziert und in Höhe und Körperumfang exakt gleich proportioniert, einen Feuerlöscher und eine Madonnenfigur. Dann sitzen sie da wie die Alm-Öhis - Kameraden der Berge, zunächst einmal kaum miteinander interagierend. Lukas Metzenbacher spielt ein erstes Lied auf dem Akkordeon.

Was denn das wohl für ein Gipfel sei, hatten die Ankündigungstexte der Produktionshäuser in ihren Teasern gefragt - ein Alpengipfel, ein Gipfeltreffen aus Politik oder Wirtschaft oder das Schweizerische Frühstücksgebäck, das man hierzulande unter dem ordentlichen hochdeutschen Begriff Croissant kennt. Croissants gibt’s tatsächlich zum Frühstück, und anschließend singt einer ein italienisches „Hoch droben auf’m Berge…“ Dabei ist der wahre Gipfel unterhalb der Augenhöhe der Hüttengäste: Er ragt, grau wie der Schutt über dem Dorfe Blatten im Tal der Lonza, mitten im Wohnraum von Duri Bischoffs karger Hütte auf, ein Gipfelchen nur, aber so aktuell und bitterböse metaphorisch wie es zur Mailänder Premiere noch niemand ahnen konnte. Hubschrauber wird man bald über die Hütte fliegen hören, ganz nah, ganz tief hoch droben in den Alpen, bevor es jeweils furchtbar kracht. Ob der Heli in den Hang geknallt ist oder der Hang gerade das nächste Dorf unter sich begräbt, erfährt man nicht. Aber dass der marthaleresk witzige und doch ungewöhnlich düstere Abend auf die Umweltkatastrophen anspielt, steht außer Zweifel. Und dass - ganz zart und leise, wie bei diesem menschenfreundlichen Regisseur üblich - auch die Politik mit ihrer zögerlichen Reaktion auf den Klimawandel angeprangert wird, ist zumindest ein zulässiger Interpretationsansatz.

Denn unsere Kameraden der Berge erweisen sich als Verwandlungskünstler vom Feinsten. Die scheinbaren 50er-Jahre-Bergwanderer sind perfekte Karikaturen der Gegenwart. Dass es aus dem SOS-Kasten qualmt, ignorieren sie. Die Durchsage, bald werde die Luft abgesaugt und in der Stadt eingelagert, um die dortige Bevölkerung im Notfall zu versorgen, irritiert sie allenfalls marginal. Liliana Benini betet entrückt zu Gott wie ein wütendes faustisches Gretchen und zieht sich aus: Man geht saunieren und lacht überlaut über schlechte Witze und obszöne Andeutungen im Bemühen um soziale Freundlichkeit. Das sind alte Marthaler-Versatzstücke, die man früher schon subtiler angewandt gesehen hat. Dann steigen unsere Bergvagabunden nicht mehr in die Luis-Trenker-Outfits, sondern in Abendgarderobe. Es ist Gipfeltreffen. Die Menschen, die bisher schon Deutsch und Englisch, Italienisch und Französisch gesprochen hatten (es wird sauber übertitelt!) halten unverständliche dadaistische Reden, tauschen sich über die Erfahrungen der Schickeria in Fuschl aus und machen sich wichtig. Auf Marthalers Gipfel - vielleicht ist es das Weltwirtschaftsforum in Davos, vielleicht ein G7-Treffen - werden alle Rituale eines solchen Treffens trefflich aufs Korn genommen.

Auf dem Gipfel gibt’s ka Sünd‘, aber Lösungen für die Probleme der Menschheit gibt es erst recht nicht. „Bedeutet, einen Gipfel zu erreichen, einen Auftrag zu beenden?“, fragt einer in den leeren Raum. Marthalers Schauspieler glänzen. Raphael Clamer gibt ein Backpfeifenkonzert, Graham F. Valentine gibt den Rhythmus mit Zungen-Plops vor. Clamer bringt die Tanzgesellschaft in Schwung, mit ekstatischen oder gelangweilten Tänzerinnen und Tänzern mit eingefrorenen, fratzenhaften Gesichtszügen in einsamem Aneinandervorbei. Die Choreographien der Auftritte sind nicht nur in dieser Szene grandios. Federica Fracassi tanzt verbissen und sieht aus wie die Reinkarnation von Maggie Thatcher. Längst hat die Idylle Risse.

Stellen Sie sich das mal vor: Die gute alte Maggie und ihr Busenfreund Helmut Kohl, der Gorbi und George Bush d. Ä. wären auf diesem Gipfel eingesperrt. Besser noch, weil heutiger und Marthalers Intentionen sicher eher entsprechend: Merz, Macron und Meloni, dazu vielleicht Orban und Uschi von der Leyen. Und dann käme diese Durchsage: „Due to unexpected incidents roads are closed for the next 15 - 18 years. Bitte bleiben Sie dort, wo Sie sich zur Zeit aufhalten.“ Ist Österreich dann noch das Hawaii Europas, wie Graham F. Valentine zuvor in den Raum gestellt hat?

Erneut fliegt ein Hubschrauber über die Hütte, stürzt ab oder löst einen Bergrutsch aus. Mit Schnadahüpferln und Nordic Walking halten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Gipfels sich fit. Unterstützung kommt durch die sich von Geisterhand öffnende Dachluke - in Form von aufblasbaren (!) Sauerstoffflaschen. Die Welt ist schräg und Rettung lauert überall. Auch für den Gipfel? Das niedliche kleine Alpengipfelchen wird in warme Decken eingehüllt und mit einem harmonischen Schlaflied zur Ruhe gebettet. Falls es noch einen kleinen Rest von Gletscher beherbergt haben sollte, wird sich dieser unter den wärmenden Decken sicher endgültig auflösen. „Goodnight, sweetheart“, hauchen die die Protagonisten des wohl zärtlichsten Pessimisten und Melancholikers unter den europäischen Theaterregisseuren. Goodnight, world. Es war schön mit dir. Vielleicht sind wir auf dem Gipfel unserer Zivilisation angelangt. Mit Marthaler wollen wir gerne untergehen.