Fraternité: Die Welt zu Gast bei Freunden
Lukasz Stawarczyk ist Schauspieler am Stary Teatr Krakau. Früh schon war er beim Theater und im Film erfolgreich. Er reiste mit seinen Produktionen nach New York, Sarajevo und Westeuropa und arbeitete mit dem kainkollektiv in Deutschland und Kamerun. Auf der Bühne der Halle König Ludwig ½ in Recklinghausen erzählt er nun von seiner Heimat: vom südschlesischen Dorf Marklowice auf der Grenze zwischen Polen und der Tschechischen Republik im Dreiländereck zur Slowakei. Es ist – der Rezensent kann das bezeugen – eine wunderschöne Gegend, dünn besiedelt, ruhig und einsam. Stawarczyk berichtet, dass er aufgrund seines südschlesisch-tschechischen Dialekts belächelt wird und sich am Stary Teatr oft in einer Außenseiter-Rolle fühlt. Seine Heimat seien die Dörfer und Wälder um Marklowicze – so wie sie waren, als er vor 36 Jahren dort geboren wurde und aufwuchs. Er wisse: Das Dorf seiner Heimat sei ein Phantom, so wie er selbst auch ein Phantom sei: Die Welt von damals gebe es nicht mehr, auch nicht in der südschlesischen Einsamkeit. Und doch gilt dieser Welt seine Sehnsucht.
Auf seinen Gastspielreisen, bei seinen Auslands-Engagements spürte ?ukasz, der nach wie vor neugierig ist auf die Welt, dass ihm das Leben in der Ferne nicht guttut und er sogar seinen Glauben an Gott zu verlieren drohte. So beschloss er, sich die Welt in seine Heimat zu holen. Er kaufte eine verfallene Hütte im Dorf Laliki gleich neben Marklowice, ließ sieben Schlüssel anfertigen und verteilte sie in sieben Theatern. Bis heute gilt: Wer immer will, kann das Haus Fraternité frei für sich nutzen – egal, ob Lukasz, der in Krakau oder in anderen Engagements arbeitet, anwesend ist oder nicht. Die erste Gästin ist schockiert: Heruntergekommen und schmutzig ist das Haus. Doch beim Flackern des Kaminfeuers entdeckt sie seine Romantik. Das Haus entwickelt sich. Es gibt Regeln: Mindestens zwei Stunden Arbeit sollen die Gäste pro Tag in das Haus investieren, um es zu renovieren, umzubauen, zu putzen. Die meisten arbeiten länger. Abends, so ist die Erwartung, versammelt man sich um einen Tisch, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Unvoreingenommenheit und gegenseitige Akzeptanz werden vorausgesetzt. „Fraternité“ in Laliki – das ist die Welt zu Gast bei Freunden.
Inspiriert zu seiner Idee wurde Lukasz durch den französischen Priester, Mönch und Eremiten Charles de Foucauld, der sich nach einem turbulenten, lange Zeit nicht gerade gottesfürchtigen Leben in eine Klause nahe Tamanrasset zurückzog und als Vermittler zwischen den unterschiedlichen Welten der (muslimischen) Tuareg und der (meist christlichen) französischen Soldaten wirkte. Auch Stawarczyk wurzelt als Dominikaner im christlichen Glauben und versucht, zwei unterschiedliche Welten miteinander zu vereinen. Doch ist sein Projekt auch eine politische Geste. Das Haus Fraternité ist eine Einladung zu teilen, zu Gemeinschaft und Solidarität sowie zur Bewahrung von Werten, die in der immer stärker auf staatliche oder individuelle Eigeninteressen ausgerichteten Welt von heute vergessen scheinen. Andererseits weist Fabian Lettow, der Spiritus Rector des kainkollektivs, der bei La Laliki Land selbst auf der Bühne steht, in der Publikumsdiskussion im Anschluss an die Vorstellung auf die Schwierigkeiten hin, eine Rückbesinnung auf die eigene Identität, wie Stawarczyk sie mit seinem Projekt vorgenommen hat, von den spalterischen Ansätzen jeglicher identitären und der meisten identitätspolitischen Bewegungen abzugrenzen. In Lalilki Land scheint das in herausragendem Maße gelungen. Die Rückbesinnung auf die eigene Herkunft geht einher mit grenzenloser Offenheit und bedingungslosem Gemeinsinn.
In einem langen ruhigen Fluss erzählen ?ukasz und das Team von kainkollektiv die Geschichte einer realen Utopie. Stawarczyk berichtet auf Polnisch, Patrycja Kowa?ska auf Englisch und Fabian Lettow auf Deutsch. Nur selten und erst spät in der 100minütigen Aufführung werden die fremdsprachigen Texte untertitelt; meist übersetzen Kowa?ska und Lettow die Berichte von Stawarczyk, ohne etwas hinzuzufügen oder wegzulassen. Das gibt der Aufführung die Ruhe und Gelassenheit, die das vom Fraternité-Prinzip verkörperte Bemühen um gegenseitiges Verständnis und um Kommunikation auf Augenhöhe widerspiegelt. Dazu passen auch die meist harmonischen Videoeinspielungen von sputnik, die Innen- und Außenaufnahmen des Hauses aus den verschiedenen Stadien seiner Entwicklung sowie die Landschaft der schlesischen Beskiden zeigen. Gedichte der dänischen Lyrikerin Inger Christensen, insbesondere Auszüge aus ihrem Langgedicht „alfabet“, verleihen der Aufführung bisweilen eine kontemplative Komponente und sind kleine Widerhaken in einer ansonsten linear erzählten, leicht nachvollziehbaren Geschichte. Sie repräsentieren wohl auch das Bemühen, das Haus Fraternité zu einem spirituellen Ort zu machen. Mariette Nancy Nko, die mit Stawarczyk und kainkollektiv vor allem in den kamerunischen Projekten zusammengearbeitet hat, tanzt – mutmaßlich in ironischer Absicht - einmal einen Tanz aus dem vielfach preisgekrönten Filmmusical La La Land, das der im realen Laliki spielenden Aufführung ihren Namen gegeben hat.
Das Projekt Fraternité ist mit den Jahren gewachsen. Selbstverständlich blieben Rückschläge und Schwierigkeiten ebenso wenig aus wie Gäste, die die unkonditionierte Gastfreundschaft ausnutzen. Es gab sogar ungebetene Besucher, die das Haus mehrfach als Domizil für ihre Großfamilie missbrauchten und sich unautorisiert einen Schlüssel nachgemacht hatten. In solchen Fällen bricht die rücksichtslose und eigennützige Außenwelt in die heile Welt von Fraternité ein und die Musik sowie die Filmbilder verlieren ihre Harmonie. Doch die Utopie lebt. Mehr als 1000 Gäste hat das Haus bisher beherbergt. Sogar seine heutige Ehefrau hat ?ukasz über das Projekt kennengelernt. Dass ?ukasz bisweilen an Aufhören denkt, erscheint geradezu zwingend. Doch häufiger plagen ihn Alpträume von einem plötzlichen, durch eine Katastrophe herbeigeführten Ende des Projekts.
Eine Erzählung der Schauspielerin Kristina-Maria Peters steht als Metapher für dessen Chancen und Risiken. Peters erzählt per Video von ihrer letzten Rolle am Schauspielhaus Bochum, die sie in Johanna Wehners (übrigens seinerzeit von den meisten Kritikern verkannter) Inszenierung von Lars von Triers Melancholia aus dem Jahre 2016 spielte. Bei von Trier kollidiert die Erde mit einem anderen Planeten. Wenn zwei Welten miteinander kollidieren, so heißt es in Laliki Land, kann es in seltenen Fällen geschehen, dass diese nicht explodieren, sondern verschmelzen zu einer neuen Welt. Neue Sterne und neue Sonnen werden geboren - und eine Zukunft voller Hoffnung.