Übrigens …

Decazeville - Der Berg, der brennt im Düsseldorf, 34Ost

Ein Heimatfilm

Grau ist die Stadt, müde und matt. Dass Nina Gazaniol Vérité und ihr Team von der Association Tropacool aus Marseille sich für das Portrait von Decazeville im Departement Aveyron den Winter ausgesucht haben, passt nur allzu perfekt. Denn auch der Himmel ist grau. Die Bäume sind kahl. Im Winter 2021/22, als Gazaniols Produktion entstand, erreichte die Covid-Pandemie noch einmal einen letzten Höhepunkt, was die trostlose Atmosphäre des Ortes verstärkte. Die auf sieben Leinwänden gezeigten, meist bewegten Bilder der Stadt erinnern in manchen Momenten an die melancholischen Filme von Theodoros Angelopoulos; in langsamen Sequenzen sieht man eine Landschaft im Nebel und eine Stadt im Zerfall. Und man spürt die Liebe der Menschen zu ihrer Heimat.

Zunächst führt uns die Inszenierung in die Geschichte des Ortes ein, der im Jahre 1826 vom Herzog von Decazes durch Zusammenführung verschiedener Kleingemeinden gegründet wurde. Élie Decazes hatte das Potential des Kohleabbaus erkannt: Der Geschäftsmann schloss sich mit einem aus der Region stammenden Ingenieur und Absolventen der École polytechnique zusammen und entwickelte eine florierende Hüttenindustrie. Die Zinkfabrik „La Vieille Montagne“ wurde zu einem der großen Arbeitgeber der Region. Doch Gazaniols Videoinstallation zeigt: Sprengungen. Das letzte Bergwerk der Region wurde im Jahre 2001 geschlossen. Die Stadt schrumpft.

In Gazaniols theatraler Videoinstallation bröckelt der Putz von der Hauswand, vor der eine Frau Austern aus der Kiste isst. Die Schalen, die sie fallen lässt, finden wir, zu einem großen Haufen zusammengekehrt, im Untergeschoss des 34OST, der Spielstätte des Asphalt Festivals. Austern waren in ferner Vergangenheit einmal so begehrt, dass sie in echtem Gold aufgewogen wurden. Und Kohle? Wir Kinder des Ruhrpotts kennen den Begriff des Schwarzen Goldes, das auch in Herne, Gelsenkirchen und Kamen, der Heimatstadt des Rezensenten, seinen Glanz verloren hat. Geschichten wie die von Decazeville stehen exemplarisch für viele Industrieregionen der sogenannten „alten Industrien“. Wie zwischen Saarbrücken und Sulzbach befindet sich in Decazeville ein „brennender Berg“, aus dem sich selbst entzündet habende Erdgase austreten.

Nina Gazaniol Verité hat die Covid-Pandemie, in der Schauspiel-Inszenierungen auf die Bühne zu bringen temporär unmöglich wurde, zu einer leisen, einfühlsamen, berührenden Videoinstallation genutzt, die die Pandemie putzmunter überlebt hat. Sie erzählt eine Geschichte, die ganz ohne Schauspieler auskommt. Die Bevölkerung von Decazeville ist vorwiegend in Außenaufnahmen zu sehen. Als Zuschauer nimmt man teil an Autofahrten durch eine gesichtslose Kleinstadt; der leere Parkplatz eines Einkaufszentrums rückt mehrfach ins Bild. Ist das alles leblos? Macht das Leben in einer solchen Stadt depressiv? - Plötzlich tanzt die Volkstanzgruppe „La Crouzade“ auf dem EKZ-Parkplatz. Vielleicht proben sie für den großen Auftritt, von dem wir später kurze Ausschnitte sehen werden. - Die jungen Männer vom Rollhockeyclub „Les gueules noires“ holen einander zum Training ab. Der Club aus der Ligue Occitanie und der Volkstanz stiften eine Art von familiärem Zusammenhalt im Ort. Die klassenkämpferische Demo einiger wütender Arbeiter passt kaum in die graue Idylle; wie überall wird sie angeführt von lauten antikapitalistischen Schreihälsen, die ihrer Sache mehr dienen könnten, wenn sie faktenbasierter und differenzierter argumentierten.

Gazaniols Installation beschäftigt sich mit einer Stadt, die Verliererin des Strukturwandels ist. Gleichzeitig ist sie eine ungeheuer empathische, liebevolle soziologische Studie - und sie ist ein Heimatfilm. Die Decazevillois haben die Schließung der Fabriken nach dem Ende des Kohleabbaus überlebt. Sie lieben ihren grauen Ort, wie überall auf dieser Erde die Menschen ihre Heimat lieben. Das Angebot eines vielleicht attraktiveren Arbeitsplatzes in der Provinzhauptstadt? „Haben wir abgelehnt“, sagt ein Ehepaar. „Wir haben hier wenig Geld, aber wir sind in Decazeville.“ Die Talsohle sei ja auch durchschritten, meint eine ältere Frau zur Verwunderung der Interviewerin: Zaghafte Zeichen des Aufschwungs seien zu erkennen. Tatsächlich rückt Gazaniols Installation neuere, hübschere Häuser in den Blick - klein, aber fein. Nur einmal gerät ein Bild unbeabsichtigt in die Nähe der Denunziation: Es zeigt den grotesken Kleinstbürgertraum von einem amerikanischen Plantation Home. Ein winziges Haus wird dominiert von einer breiten weißen Treppe, mittig angelegt zwischen zwei erbärmlich schmalen Seitenteilen - ein royaler Zugang zu einem ärmlichen Zuhause. Nicht jeder Traum eignet sich halt zur Verwirklichung.

Doch die Austern schmecken. Immer wieder wiederholt sich das Bild. Eine fürstlich gedeckte Tafel mit edlem, altmodischem Porzellan dominiert eine Station auf unserem Parcours durchs 34OST, und selbstverständlich ist eine Schale reichlich mit Austern gefüllt. Nein, wir nehmen nicht Platz, genauso wenig wie wir im Fastfood-Restaurant bedienen, hinter dessen Theke wir uns einmal einfinden. Wir wandern durch die Stadt, deren Reminiszenzen das Team von Nina Gazaniol wie in einer Kunstausstellung an den Wänden und auf dem Boden dekoriert hat. Wir wandern von Leinwand zu Leinwand zwischen Chipstüten-Matratze und Kohle-Beet, McDonalds-Theke und Muschelschalen und begreifen die Liebe zur verfallenden Stadt. Vor deren Toren kokelt der Felsen weiter vor sich hin, in dem sich vor Jahrzehnten Pyrit entzündete. Und die Gueules Noires kämpfen heldenhaft gegen den Abstieg.