Übrigens …

A Doll’s House im Asphalt Festival Düsseldorf

Real People

Der Düsseldorfer Stadtteil Unterbilk ist ein städtisch geprägtes Viertel mit einem Mix aus einigen hübsch restaurierten und vielen gesichtslosen Mehrfamilienhäusern sowie coolen, originellen Kneipen und Restaurants. Durch die Nähe des hippen Medienhafens machte er in den letzten zwei Jahrzehnten eine Phase der Gentrifizierung durch, die nicht nur die Preise, sondern vor allem die Attraktivität des Viertels in die Höhe trieb. Hoch oben unterm Dach eines der schöneren Häuser wohnen Susanne und Patrick – „real people“, wie Jakob Hannibal uns draußen auf der Straße erzählt, und „really nice“. Obwohl: Letzteres wisse er nicht so genau, denn er habe sie noch nie getroffen. Mutig sind Susanne und Patrick auf jeden Fall: Sie haben 22 wildfremde Menschen und drei Theatermacherinnen und Theatermacher vom dänischen „Fix+Foxy“-Ensemble in ihre Wohnung eingeladen, ohne genau zu wissen, was dort wohl passiert. Tatsächlich haben sie zuvor weder die Theaterleute kennengelernt noch ahnen sie, dass sie den großen Teil des heutigen Abends höchstselbst im Reality-Format bestreiten müssen. Susanne und Patrick spielen die Geschichte von Nora und Torvald nach. Der Wandschmuck weist sie als kunst- und kulturinteressiert aus, doch Ibsens 1879 emanzipatorisch gemeinte Story kennen sie offensichtlich nicht. Wir aber wissen: Solange im Puppenhaus eitel Sonnenschein herrscht, machen die zwei auf Turteltäubchen, aber spätestens als beide durch einen früheren Fehler Noras in die Klemme geraten, gießt der spießige, aber mächtigere Teil des Paares das ganze Repertoire an toxischer Männlichkeit über seine Partnerin aus.

Während wir Zuschauerinnen und Zuschauer es uns also auf Treppe, Fußboden und Sitzgelegenheiten bequem machen, weisen Jakob (Hannibal), Anna (Bjorgulf) und Ben (Samuels) sie in ihre Rollen ein. Und die lauten nicht Torvald und Nora, sondern Patrick und Susanne. Ibsen habe schließlich auch nur bei „real people“ durchs Schlüsselloch schauen wollen, und so sollen auch Nora und Patrick „real people“ spielen – also sich selbst. Das aber in Situationen, die dem – selbstverständlich aktualisierten und perfekt auf die zu Beginn erfragten Biografien von Patrick und Susanne angepassten – Plot von Ibsens Nora – ein Puppenheim ähneln. Anna spielt derweil eine wunderbar sym- und empathische Frau Linde, Sam einen zartfühlenden und gar nicht so furchtbar übergriffigen Dr. Rank und Jakob einen fies intriganten Krogstad, der auch mal so laut werden kann, dass man um die Seelenruhe von Susannes und Patricks Nachbarschaft fürchtet. Ab und an geben die drei Profis dem Reality-Paar ein paar Ibsen-Sätze vor, damit der Plot in die richtige Richtung vorangeht. Unser Gastgeber-Paar muss nun einige knifflige Situationen lösen, von denen die öffentlichen Flirtations die harmlosesten sind: Was macht Patrick, wenn er entdeckt, dass Susanne ihn jahrelang belogen hat? Wann und wie offenbart Susanne ihrem Partner, dass sie wegen einer gut gemeinten, aber dennoch kriminellen Handlung erpresst wird und die Karriere ihres Mannes in Gefahr bringt?

Wenn das Konzept funktioniert, erlebt man immersives Theater vom Feinsten. Patrick und Susanne sollen so viel wie möglich Patrick und Susanne sein und so wenig wie möglich eine fremde Rolle spielen. Im Falle von Ibsens pikantem Plot ist das nicht so einfach; die Angelegenheit kommt am vom Schreiber dieser Zeilen besuchten Abend eher mühsam in Gang. Das Publikum ist zum Voyeurismus verdammt und natürlich gespannt darauf, wie Susanne und Patrick ihre Konfliktsituationen lösen. Aber unablässig fragt man sich auch, wie denn die eigene Partnerin oder der eigene Partner in den entsprechenden (gespielten) Konfliktsituationen reagieren würde – da wäre zu Hause aber mehr Feuer unterm Dach, fürchtet der Rezensent. Aber keine Sorge - die drei professionellen Performer lenken das Geschehen mit sanfter Hand: So wie sie im Falle von Susanne und Patrick die Konflikte ab und zu ein wenig anheizen müssen, würden sie zweifellos auch eskalierende Situationen vermeiden. Dass Susanne ihren Patrick am Ende ins Aquarium schießen würde wie einst Anne Tismer Jörg Hartmann, wüssten die drei schon zu verhindern. Sie sorgen im Gegenteil dafür, dass auch der Humor in der improvisierten Aufführung nicht zu kurz kommt, und vermeiden rücksichtsvoll jede Situation, die den beiden netten Gastgebern bei ihrem Spiel peinlich werden könnte.

Die Profis üben sich also an jedem Abend von neuem im Multitasking: Sie coachen ein Laien-Paar, das nicht einmal den Plot des Abends kennt, sie stellen sich Abend für Abend auf die jeweils anders gearteten Charaktere der Gastgeber einschließlich ihrer individuellen Schmerzgrenzen und Improvisationsfähigkeiten ein, und sie passen selbst ihre eigenen Rollen an die neuen Noras und Torvalds an. Bjorgulf, Hannibal und Samuels erledigen das mit souveränem Fingerspitzengefühl. Die Inszenierung wird – site-specific adaptiert und in wechselnder Profi-Besetzung – bereits seit elf Jahren in verschiedenen Ländern und Sprachen gespielt. Nie dürfte der Satz so wahr gewesen sein, dass im Schauspiel jeder Abend anders ist.

Aber die Performerinnen und Performer gehen nicht nur das Risiko ein, dass ihre Hauptdarsteller wechselnde „real people“ sind. Auch die Zuschauer, die sich heute in Patricks und Noras Wohnung und morgen in anderer Besetzung in den Häusern anderer Gastgeber herumlümmeln, sind real people. Das ist nicht ganz unkritisch für den Erfolg des Abends. Eine vierte Wand muss in dieser Inszenierung nicht eingerissen werden – sie gibt es gar nicht. Auch wir spielen mit – einmal sind wir gar mit Hütchen und Polonäse Gäste der kritischen Party, nach welcher es zwischen Nora und Torvald zum Showdown kommt. Daher gibt es auch keine Distanz der Zuschauenden zur Theater-Situation. Am vom Rezensenten besuchten Abend glaubte sich eine Minderheit der Zuschauenden offenbar bei Mario Barth zu Gast. Gnadenlos wurden viele Szenen, in denen Trauer oder Tenderness angebracht gewesen wären, in falsch verstandenem Vergnügen in Grund und Boden gekreischt. Dagegen kommt auch das beste Profi-Ensemble nicht an. Und doch: Zweimal an diesem Abend, zuerst als Nora und Torvald erstmals offen über die ehegefährdende Situation sprechen, und zum Schluss, als Susanne die Haustürschlüssel aufs Sofa fallen lässt und die Wohnung verlässt, herrscht beklemmende Stille. - Susanne und Patrick, soviel war beim Schlussapplaus und beim Abschieds-Bier zu erkennen, hat es jedenfalls Spaß gemacht.