Übrigens …

Blind Runner im Schauspielhaus Düsseldorf

Politische Demonstration dreier Langstreckenläufer

"Nimm die Fesseln an, wenn du Freiheit begehrst / akzeptiere die Ketten, wenn du Unabhängigkeit willst." – Zweimal wird das persische Gedicht in der Aufführung von Amir Reza Koohestani zitiert. Dem Rat zu folgen, ist leichter gesagt als getan, wenn man als regimekritische Frau in einem iranischen Gefängnis sitzt. Mit ihrem Mann ist sie einst gemeinsam Marathons gelaufen. Auch nach der Inhaftierung der Frau laufen sie weiter: er außerhalb, sie innerhalb der Gefängnismauern - gleichzeitg. Zweimal 30 Minuten Besuchszeit stehen dem Ehemann zu – zu wenig, um eine Basis für nachhaltige Gespräche zu schaffen. Und doch versuchen sie es: Da sie abgehört werden, unterhalten sie sich während der Besuchszeiten in Metaphern: über Ameisen und Spinnen, über die asiatische Hierodula membranacea, bei der das Weibchen dem Männchen nach dem Geschlechtsakt den Kopf abbeißt. Doch zweimal 30 Minuten pro Woche sind auch zu kurz, um eine Liebe aufrechtzuerhalten. Beide kämpfen um ihre Liebe. Doch man entfremdet sich.

Aber die Entfremdung vom iranischen Staat ist stärker: Die Frau bittet ihren Mann, einer erblindeten Läuferin, der iranische Sicherheitskräfte bei einer Demonstration in die Augen geschossen haben, beim Paris-Marathon als Lauf-Begleiter zu assistieren. Parissa, die erblindete Läuferin, belegt den dritten Platz. Nicht zuletzt um ihre Popularität zu nutzen, entsteht eine neue, gefährliche Idee zum Protest gegen die britische Migrationspolitik. Man weiß im Publikum um die Verzweiflungstaten, zu denen die in den Flüchtlingslagern von Calais hausenden Migrantinnen und Migranten zu greifen bereit sind, um die britische Insel zu erreichen …

Der Autor und Regisseur Amir Reza Koohestani ist selbst Marathon gelaufen – nach eigener Aussage als Reaktion auf die Niederschlagung der „Grünen Bewegung“ im Iran im Winter 2009. Auch die Journalistin Niloofar Hamedi, die im September 2022 als erste über den Tod von Mahsa Amini berichtete und anschließend inhaftiert wurde, soll im Gefängnis zweimal pro Woche in Hausschuhen Lauftrainings absolviert haben und eine entsprechende verschlüsselte Lauf-Kampagne bei den Menschen in Freiheit ausgelöst haben. Koohestanis Text, in dieser Hinsicht nur für Insider verständlich, nimmt einmal auf diese Aktion von Hamedi Bezug. - Das Laufen steht für den Regisseur als Sinnbild für Kraft, Widerstandsfähigkeit und Freiheit und ist in Blind Runner vielleicht auch ein Mittel zur Selbstvergewisserung.

Koohestani inszeniert extrem minimalistisch. Im Grunde ist die Aufführung nicht viel mehr als klassisches Storytelling: Fast statische Szenen wechseln sich mit Lauftrainings auf der Bühne ab. Wenn die beiden Ehepartner sich bei den Besuchszeiten im Gefängnis miteinander austauschen, stehen beide einige Meter voneinander entfernt unbeweglich auf der Bühne; ihre Gesichter erscheinen in Großaufnahme auf der Leinwand dahinter. Man begreift die Distanz, die das Fenster und die Mauer zwischen dem Besucher und der Insassin schaffen und die nach und nach auch zur emotionalen Distanz zwischen den Partnern führt. Vor allem auf Seiten der Ehefrau schleicht sich Eifersucht ein: Schließlich trainiert ihr Mann regelmäßig mit einer anderen jungen Frau, die partiell eine ähnliche Rolle im Leben ihres Mannes einnimmt wie sie selbst sie in Freiheit hatte: als Laufpartnerin. „Sieht sie mir ähnlich?“, fragt die Frau.

Nicht nur das: Parissa und die Inhaftierte werden von der gleichen Schauspielerin gespielt. Ainaz Azarhoush wechselt weder das Kostüm noch die Stimme noch den Standort, wenn sie von einer Rolle in die andere wechselt, und beweist, dass man auch mit minimalistischen Mitteln große Differenzierungskraft entwickeln kann. Es kommt, was kommen muss: Während der Abschlusstrainings in Paris kommen sich der Laufgebleiter und die erblindete Läuferin auch emotional näher. Waren Mann und inhaftierte Frau zu Beginn zwar gemeinsam, aber nicht immer in gleicher Richtung gelaufen, werden die Laufbewegungen von Parissa und ihrem Begleiter zunehmend synchron. Mit derart schlagend einfachen Mitteln vermag Koohestani von Liebe und Distanz zu erzählen…

Mag sein: Bei gleichem Rhythmus schlagen auch die Herzen gleich. Dass allerdings, wie es viele Kritiken und auch die Ankündigungstexte formulieren, der Rhythmus der (persischen) Sprache sich mehr und mehr mit dem Rhythmus des Laufens verbinde und die Aufführung dadurch poetische Kraft entwickle, bleibt Behauptung. Zumindest hat sich dieser Effekt dem Rezensenten nicht mitgeteilt. Im Rahmen der minimalistischen Erzählweise durchaus konsequent entwickelt sich die geschickt konstruierte und immer wieder mit kleinen Rätseln in die Zukunft weisende Geschichte sehr langsam, zu Beginn auch mit kleinen Redundanzen. Dennoch fesselt sie: Das reduzierte Tempo scheint kalkuliert, denn irgendwann nimmt die Aufführung Fahrt auf – bis hin zum wahrhaft dramatischen Ende. Dass Blind Runner eine wichtige Erzählung im Kampf gegen das iranische Regime und die in Teilen unmenschliche europäische Flüchtlingspolitik ist, steht ohnehin außer Zweifel.

Auch kann man sie als Reflexion über teuer erkaufte Privilegien lesen. Parissa weist im Laufe der Erzählung darauf hin, dass sie als erfolgreiche, zudem im Widerstand gegen ein inhumanes Regime zu schwerem körperlichem Schaden gekommene Para-Sportlerin im Westen eine privilegierte Migrantin ist. Gleich wie man zur heutigen verschärften Migrationspolitik steht: Wie viel andere gut ausgebildete, integrationswillige und -fähige Migrantinnen und Migranten fallen bei der Flucht in die EU durchs Netz?