Übrigens …

One Song im Düsseldorf, 34Ost

Bis zum totalen Zusammenbruch

Vier Tage zuvor hatte das Asphalt Festival an gleicher Stelle Amir Koohestanis leisen, minimalistischen Blind Runner gezeigt (siehe hier). Der Laufsport wurde bei Koohestani zum Sinnbild für Widerstandsfähigkeit und Freiheit. Auch Miet Warlops beim Avignon-Festival 2022 uraufgeführte Produktion One Song dreht sich um Sport. Sie ist das krasse Gegenteil von Blind Runner: nicht leise, sondern diabolisch laut, nicht minimalistisch und zurückhaltend, sondern temperamentvoll und temporeich. Die Performerinnen und Performer verausgaben sich bis zum totalen Zusammenbruch.

Man ist, wie es scheint, in einem alten Fußballstadion. Eine einfache Holztribüne ist an der Bühnenrückwand aufgebaut, von der aus eine Stadionsprecherin mittels eines blechernen, die Töne nur verzerrt wiedergebenden Megafons die Stimmung anzuheizen versucht. Man versteht: nichts. Also wie in einem alten Fußballstadion. Ein groß gewachsener männlicher Cheerleader in weißem Kleidchen schwingt seine Cheerleader-Puscheln und dreht sich unablässig im Kreise. Auf den Fan-Schals stehen keine Vereinsnamen, sondern Sprüche wie „Citius, altius, fortius“, „NOW!“ oder: „Sans Peur“. Furchtlos müssen sie schon sein, die Leistungssportlerinnen und -sportler, die sich langsam warmlaufen. Wir werden es noch erleben. Man könnte vermuten, dass Warlop mit ihrer Arbeit eine Satire auf die Hysterie des Sportbetriebs inszenieren wolle. Doch die Wahrheit liegt tiefer. Der Humor, der zu Beginn der Aufführung deutlich hervortritt, zieht sich mehr und mehr zurück.

Die Fans peitschen ihre Stars zum Kampf der Wagen und Gesänge. Gesänge? One Song nur wird performt, 60 Minuten lang mit nur minimalen Variationen. Ein Metronom gibt den Takt an. Mehrfach im Laufe des Abends wird es schneller gestellt - und zwar durch die Performer selbst, obwohl diese längst an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit zu sein scheinen. Elisabeth Klinck begleitet den Song mit der Geige: vom Schwebebalken aus, auf dem sie ansatzweise Turnbewegungen vollführt. Zwischendurch hetzt sie zu den Stationen des Schlagzeugs, kloppt mit aller Kraft auf Becken und Drums, wirft sich völlig erschöpft zu Boden, um Sekunden später wieder auf dem Balken zu balancieren, ruhig atmend die Violine spielend. Willem Lennaerts bedient 60 Minuten lang einen Synthesizer, der weit über Kopfhöhe angebracht ist und den er nur mit äußerster Anstrengung im Sprung erreicht. Soweit wie unzumutbar sind auch die einzelnen Instrumente des Schlagzeugs voneinander entfernt, die Melvin Slabbinck nur mit sagenhaften Sprints erreicht - pausenlos, eine Stunde lang, wenn man von einer kurzen Trinkpause absieht. Genauso pausenlos joggt Jeppe Tanghe auf dem Laufband. Er ist der Sänger, der das Lied performt, unerträglich laut, hinreißend energetisch. Simon Beeckaert macht derweil 60 Minuten lang Situps, um dem über ihm schwebenden Kontrabass Töne zu entlocken. Es ist … die reine Ausbeutung. Nur: Ist es die Selbstausbeutung des Leistungssportlers oder die Ausbeutung des Menschen durch die Leistungsgesellschaft, die wir da sehen? Ist es Kritik oder Hommage an die Grenzüberschreitung, der sich diese jungen Performerinnen und Performer stellen?

Im Optimalfall überträgt sich beim Leistungssport die Energie von den Rängen auf den Rasen und umgekehrt. So auch hier: Die fünf Fans auf der Holztribüne animieren die musikalischen Sportlerinnen und Sportler, und deren Leistungen heizen wiederum die Fans auf. Auch auf das Theaterpublikum überträgt sich diese Energie: Im Parkett nimmt man die bestialische Lautstärke irgendwann nicht mehr wahr und sieht sich in einen rauschhaften Zustand versetzt.

Warlop greift mit ihrer Performance, die in Milo Raus NT Gent als der vierte Teil seiner Reihe „Histoire(s) du Théâtre“ firmiert, auf eine Reihe ihrer früheren Performances zurück. Neben der rot gekleideten Stadionsprecherin beispielweise liegt ein rätselhaftes, in gleiches Rot getauchtes drittes Bein, das Warlop aus einer früheren Performance, in der sie selbst die Hauptrolle spielte, übernommen hat. Auch die Figur des sich drehenden Cheerleaders ist ein Zitat aus einem früheren Warlop-Stück, in dem die Theatermacherin selbst permanent um die eigene Achse rotierte. Vor allem aber weist die Produktion von One Song auf eine mittlerweile mehr als 20 Jahre alte Performance zurück, mit der Warlop den frühen Tod ihres Bruders verarbeitete. Der Großteil des - sparsamen - Texts der heutigen Performance wurde hinzugefügt, der Song dagegen blieb derselbe. Er hat nichts mit Leistungssport zu tun. Er dreht sich um Tod und Trauer, um Traumata gar: „Grief ist like a rock in your head“, heißt es da, „it’s hard it’s rough it’s just always there“. Und: „Run for your life ‘till you die … ‘till we all die“.

Die furiose Inszenierung mit ihrer Lautstärke und ihrer physischen Grenzüberschreitung ist somit auch ein Exorzismus. In Blind Runner stand Laufen für Freiheit. Hier steht die völlige Verausgabung im Sport für eine Methode der Trauerbewältigung. Auch das ist eine Art von Freiheitsstreben - von Streben nach der Wiedergewinnung der Kontrolle über sich selbst. Das Publikum reagierte enthusiastisch.