Traumata als einzige Option
Von dem großen Raum des Ost34 ist eine Spielfläche mit schwarzen Vorhängen abgeteilt. Am Rand ein Keyboard, oben rechts und links Projektionsflächen für Texte und Bilder. Auf einem Metallgestell wird eine Wand aus mächtigen Eisblöcken hereingerollt. Hinweis auf die Klagemauer in Jerusalem oder die Sperranlage am Gazastreifen? Es tropft und platscht: ein Stück Wirklichkeit ohne Bestand.
Ein junges Paar taucht auf: die deutsche Schauspielerin Nadia Migdal und ihr Partner, der israelische Theatermacher Uri Fahndrich, die uns in den nächsten 90 Minuten einen erschütternden Ausschnitt aus ihrem eigenen Leben auf die Bühne bringen werden. Eine Phase, die bis ins Heute hinein ihre Schatten wirft, die sie selbst aus den Zeugnissen ihres traumatischen Alltags, aus Tagebuchnotizen, eigenen Video- und Tonaufzeichnungen zu einem ergreifenden dokumentarischen Theaterabend gestaltet haben, der hier beim Asphalt-Festival seine Uraufführung hat. Es geht um die Zeit nach dem Massaker der Hamas in Israel im Oktober 2023, um die ersten Monate des folgenden Krieges, um die Zeit der Trennung und Kriegserfahrung. Um die Traumata der Kämpfenden, der Alleingelassenen, schließlich um das „Staatstrauma“ des ganzen Landes, wie es im Text einmal heißt.
Der schweizerisch-israelische Musiker und Performer Meni Gross erschafft dazu eine immersive Klanglandschaft.Doch zu Beginn ein kurzer Moment der Idylle: Die Kinderlieder „Schlaf, Kindchen schlaf!“ und „Kommt ein Vogel geflogen“ erklingen und verweisen auf das Familienglück des Paares in Tel Aviv mit ihrem vier Monate alten Töchterchen Alma.
Dann wechselt der Sound. Die beiden wenden sich direkt ans Publikum mit einem Heft in der Hand - ihrem Kriegstagebuch, das beide unmittelbar nach der Trennung begonnen haben. Nadia beginnt vorzulesen: „Heute hat mir Uri gesagt, dass er in den Krieg zieht. Ich bin wie gelähmt.“ Uri wird als Reservist eingezogen und als Kompaniekomandant achtzig Leute unter sich haben. Zu seinen Aufgaben gehört es, evakuierte Gebäude kontrolliert zu sprengen. Als er ein Objekt vor der Sprengung kontrolliert, trifft er auf verletzte palästinensische Zivilisten, die dort untergeschlüpft sind. Er ruft das Rote Kreuz - so wie er es bei verletzten Soldaten tut - und stellt sich die Frage, ob „Menschlichkeit“ in seinem Job noch möglich ist. Schließlich wird er von Splittern verletzt, sein Dienst endet im Februar 2024.
In einer grotesken Einlage zeigt sich seine Zerrissenheit und Verstörtheit: affig kichernd, grotesk herumzappelnd erzählt er alberne, geistlose Soldatenwitze, die beim Publikum nicht Lacher, sondern Erschrecken hervorrufen.
Aber auch Nadia gerät aus der Bahn. Schon beim ersten Kurzbesuch von Uri fühlt sie die Entfremdung: „Ein Schleier umgibt ihn. Etwas ist zerbrochen, “ klagt sie und verlässt das unter Raketenbeschuss geratene Tel Aviv. Angst und Sorge um Uri, ihre Liebe, um das Kind, das den Vater nicht mehr erkennt, treiben sie in die Depression.
Auf der Videowand tobt der Krieg, Flammen, Zerstörung, verzweifelte Menschen. Ein Hilferuf der Familie ihrer von den Hamas entführten Freundin Romi Gonen trifft sie schwer. Sie fühlt sich „am Rand der Erschöpfung“ und glaubt sich „geopfert als Familie“.
Mit der Maske eines Staatsanwaltes fällt sie über den heimkehrenden Uri her, wirft ihm Schuld und Versagen vor, wo er Menschlichkeit und Rettung einbringen wollte.
Sie ist in Deutschland sozialisiert mit dem Glauben an „Nie-Wieder“. Davon bleibt ihr in Israel nichts als die Aufforderung zur Selbstverteidigung.
Am Ende des Stücks sind wir im Hierund Jetzt, am 25.Juli 2025. Uri fasst seine Situation zusammen, erklärt alle Freude für verloren. „Nur Alma bringt mich noch zum Lachen.“ Der Krieg ist nicht zu Ende. Er ist Teil seines Lebens. „Die Erinnerungen kommen und besuchen mich - jeden Tag.“
Eindrucksvoll an diesem Kriegsdrama ist, dass das Leid der beiden gleichbedeutend nebeneinandersteht: des Mannes in der Brutalität des Kampfes, den das eigene Kind am Ende nicht mehr erkennt, und der Frau - in ihrer Vereinsamung und unbegreiflichen, großen emotionalen Entfremdung und zugleich der Sorge um den Partner. Die Traumata der einzelnen wachsen zusammen zum gemeinsamen Trauma um die „geopferte Familie“, um das gemeinsam geplante und erwünschte Lebensmodell, um die verlorene gemeinsame Zeit.
Wie wir die beiden, Nadia und Uri, am Ende da stehen sehen, bewundern wir nicht nur ihren ganz persönlichen Mut, uns so intensiv teilhaben zu lassen an ihrem privaten Schicksal, an der jeweils ganz eigenen Perspektive auf das Geschehen, sondern zugleich bewundern wir die künstlerische Kraft der beiden, die mit ihrem Werk aus dem Privaten ein Allgemeingültiges, aus dem Kleinen, ein im Großen Wirkendes geschaffen haben und so eindrucksvoll präsentieren.Das bis zu Tränen ergriffene Publikum dankte mit herzlichem Applaus.