Übrigens …

[EOL]. End of Life – eine virtuelle Ruinenlandschaft im Düsseldorf, Forum Freies Theater

Moral und Unmoral der Löschungsbewilligung

Nach knapp 100 Minuten steht man irgendwie ergriffen und erschüttert an der Seite eines elfjährigen Mädchens und schaut durchs Fenster zu, wie die virtuelle Welt des Metaversums in einem schwarzen Meer versinkt. Oder auch, so vermutet der Rezensent, wie sie zu strahlender Größe und endgültiger Weltbeherrschung aufsteigt – dann nämlich, wenn man sich nicht entschieden hätte, sie per Knopfdruck auszulöschen. „Ich kann dich nicht an die Hand nehmen“, hatte das Mädchen gesagt. Und: „Niemand wird um mich weinen.“ Lisa stirbt unentwegt, und kann doch nicht sterben. Sie hofft, dass der Theaterbesucher, der in Victoria Halpers und Kai Krösches VR-Installation die Löschungsbewilligungen erteilt, ihrem Leben ein Ende bereiten kann. Vielleicht hofft sie vergebens.

Niemand wird um sie weinen? Die Zuneigung zu diesem Mädchen ist in den letzten zehn oder zwanzig Minuten rapide gewachsen. Man möchte Lisa in den Arm nehmen, man möchte ihr den Kopf streicheln. Unwillkürlich macht man ihr Platz am Fenster, damit sie besser sehen kann. Sie schaut einem tief und ernst in die Augen, sie erzählt von ihren Eltern, die ihr schreiben – und irgendwann doch in die Ferne rücken. Und dann: geht Lisa einfach so durch einen durch und taucht in einer anderen Ecke des Raums wieder auf. Denn Lisa ist ein Avatar. Ein Avatar, der stirbt und nicht sterben kann. Dieser Avatar, man glaubt es kaum, weckt Gefühle beim Besucher. Er weckt Beschützerinstinkte. Dass bei den sympathischen realen Eltern die Sehnsucht nach der Verstorbenen verblasst, mag traurig sein, ist aber nur gesund. Sonst ist in dieser traurigen, verlassenen digitalen Welt nur wenig gesund. Also: „Löschen“, denke ich.

Lisa war meine wunderbare Begleiterin in den letzten zehn oder zwanzig Minuten der erstaunlichen Reise auf 9,6 Quadratmetern durch ein riesiges Metaversum. Besser: Ich habe sie begleitet durch die letzten Tage ihrer Kindheit. Mein offenbar im Sterben liegender Vater, der mir zu Beginn, als die Virtual-Reality-Produktion von Victoria Halper und Kai Krösche noch weniger komplex war, verschwommene Super 8 Filme aus meiner Kindheit zeigte, hatte ebenfalls Gefühle geweckt: Er war mir zu weinerlich; seine Selbstkritik fand ich zu dick aufgetragen. „Oller Schleimer“, dachte ich, und drückte hartherzig auf „Delete“ – nicht bewahrenswert, weder in der virtuellen Realität noch in der Erinnerung. „Delete“ ist endgültig. Was gelöscht ist in diesem Metaversum, lässt sich nicht wiederherstellen, ist endgültig vergessen. Macht das mal mit Eurem Vater! Löscht ihn aus! Könnt Ihr das? – Ich tat es. Und ließ Oma in ihrer ärmlichen, vollgemüllten Küche leben, inkl. der kurz angedeuteten Klänge aus dem nationalsozialistischen Volksempfänger. Was spielt sich da ab im eigenen Hirn, fragt man sich später, als man der Umklammerung durch den Digitalkonzern entronnen ist, für den man gerade 100 Minuten lang gearbeitet hat. Meine große Liebe in der Kindheit gehörte meiner Oma; zu meinem Vater hatte ich lebenslang ein höchst ambivalentes Verhältnis. Spielt das heute, im Alter von über 70, noch eine Rolle bei meinen Entscheidungen?

Darum geht es der Wiener freien Gruppe, die mit ihrer immersiven VR-Performance sensationell zum Berliner Theatertreffen 2025 eingeladen waren, allenfalls peripher. Es geht um die Macht der Künstlichen Intelligenz – auch ihre manipulative Macht - und um unser digitales Erbe. Erinnerungen sind von jeher verfälscht, aber in der digitalen Welt ist der Manipulation, dem Auslöschen und dem Verfälschen von Daten und Erinnerungen umso mehr Tür und Tor geöffnet. Als freier Mitarbeiter des Digital-Konzerns IRL 2.0, der gigantische Speicherkapazitäten verbraucht, hat der Theaterbesucher (jeder für sich, ganz alleine!) in verschiedenen Situationen darüber zu befinden, welche gespeicherten Daten und Erinnerungen endgültig gelöscht werden können. Dabei geht der Konzern eigentlich ganz vernünftig vor: Wir betreten ausschließlich digitale Räume, in denen sich seit mehr als zehn Jahren niemand mehr aufgehalten hat: Eine „kw“-Vormerkung, „kann weg“, liegt also nahe. Gelöscht werden sollen natürlich kriminelle oder pornografische Inhalte, aber auch alle unschönen, vermüllten Räume, alle Daten über verstorbene Personen, die zu intim und persönlich sind, alle Räume, deren Design misslungen oder zumindest wenig perfekt erscheint. Klingt einfach, isses aber nicht: Zu sehr lässt man sich – siehe oben – von eigenen, ganz persönlichen Vorlieben und Erfahrungen leiten. Vor allem aber kommt man in moralische Zwangslagen.

Eine kalt lächelnde, überperfekt puppenhafte und deshalb eigentlich ebenfalls zu löschende Moderatorin (sorry, Frau Halper, ich lese gerade, dass sie ein wenig nach Ihrem Bilde geschaffen wurde) führt uns in unsere Aufgabe ein und lobt uns zu Beginn. Wir sind erleichtert. Weil die KI uns lobt? Für was für eine menschenverachtende Aufgabe eigentlich? – Unsere Entscheidungen treffen wir zunehmend routinemäßig nach der Uhr an unserem beim Blick durch die VR-Brille künstlichen und abgehackten Handgelenk. Doch irgendwann ist nicht nur die roboterhafte Coachin verschwunden. Wir stehen der der digitalen Welt nicht mehr als Beobachter und Entscheider von außen gegenüber, sondern werden hineingesogen in eine meist gruselige digitale Welt. Zunehmend verlieren wir unsere Aufgabe aus den Augen. Avatare, die selten vertrauenswürdig scheinen, locken in verbotene Räume; in einem düsteren Rave-Club begegnen uns furchterregende Gestalten, gespensterhafte Feen nehmen Kontakt auf; Männer winden sich wie in Horrorfilmen und betteln um Besuch aus der Welt der Lebenden oder darum, ihre digitalen Avatar-Leben endlich aufgeben zu dürfen. Wir betreten klaustrophobisch enge Kammern, stehen vor riesigen, weiten Landschaften, im Kellerloch, unter einem großartigen Himmelszelt und in einem tollen Unterwasserpark. Manche dieser virtuellen Installationen törnen von vornherein ab; andere sind wunderschön - doch immer geht es am Ende einer Station um Death and Debris, um Trümmer, Tod und (Alp-)Traum. Wir schauen auf großartige Stadtlandschaften mit Spielplätzen, werden von einem alten Kahn wie aus Onkel Toms Hütte in eine futuristische Wasserwelt mit riesenhaften, beeindruckenden Skulpturen abgeholt. So vieles erscheint bewahrenswert. Doch dann – bricht ein Tsunami los, färbt sich Wasser blutrot, schwimmen menschliche Avatare in einem Bild wie von Hieronymus Bosch ersonnen. Und wir überqueren den Styx.

Die Aufgabe, Entscheidungen zu treffen, wird immer komplexer. Was die Wiener Gruppe DARUM um Victoria Halper und Kai Krösche ersonnen hat, ist eine riesige, erschreckende Dystopie. „Delete“ heißt jedoch immer auch: die Erinnerung löschen. An Oma. An die moderne Stadt mit hellen Wohnblocks und Spielplätzen. An den endlosen Büroflur mit den austauschbaren gleichförmigen Arbeitsplätzen. Haben wir uns dort nicht auch wohlgefühlt? Was sind wir für gottgleiche Wesen, wenn wir über Gut und Böse, über bewahrenswert und Schrott entscheiden dürfen? Welcher Lebensstil, der uns hier vorgegaukelt wird, gefällt uns so, dass wir ihn bewahren wollen? Und welche menschlichen Umgebungen von minderer Qualität, in denen aber vielleicht auch glückliche Personen lebten, wollen wir vernichten? Was ist Schrott, was ist schön? Begreifen wir eigentlich, dass es hier um Verstorbene geht? „In unserer Liebe lebst du weiter“, versprechen wir in unseren Todesanzeigen. Begreifen wir beim Umgang mit der KI die moralische Dimension unseres Tuns?

Überwältigend ist diese Welt, erschütternd und erschreckend. Und ganz real, um mal auszusteigen aus der Halper-Krösche’schen Vision: technisch unglaublich perfekt gemacht. Da die KI bekanntlich ein selbstlernendes System ist, werden auch die Avatare immer perfekter – sogar in den 90 Minuten der „Aufführung“. Der Rezensent hat wenig Erfahrungen mit VR-Kunst, doch alle Profis vor Ort versicherten ihm, so etwas wie EOL noch nie gesehen zu haben. - Aber Schluss mit dem Gerede: Lisa kommt. Sie blickt uns tief in die Augen und sagt: „Nur du kannst mich erlösen.“ – Wirklich?