Die Trockengebiete zwischen den Pfützen
Wie trifft man eigentlich seinen besten Freund? Eigentlich ist das ganz einfach, sinniert Tim Weckenbrock am Theater Oberhausen. Man trifft ihn per Zufall in überraschenden Momenten – auf einer Zugreise nach Guatemala zum Beispiel. Oder in einem Zeppelin 300 Meter über der Erde. Hinterher fragt man sich: „Warum eigentlich ausgerechnet dieser Mensch?“ Bei Flo und Ari war es ganz einfach: „Ich hatte keinen Schläger“, erinnert sich Flo. „Und du hattest zwei.“
Das Jugendstück, vom Theater Oberhausen ausgeschrieben für Menschen ab 10 Jahren, beginnt bezaubernd poetisch. Von Anfang an spürt man: Hier werden die Jugendlichen ernst genommen. Entliehen ist der Beginn natürlich einer schon ein wenig abgegriffenen Metaphorik für den Beginn einer großen Liebe. Aber das erscheint situationsadäquat: Zwischen dem elfjährigen Flo und dem gleichaltrigen Tischtennis-As Ari entsteht eine innige, lebenslange Freundschaft. Bloß dass das Leben nicht mehr lange dauert - für einen der beiden zumindest nicht. Nach den Großen Ferien steht der Wechsel in die weiterführende Schule an. Doch am ersten Schultag sitzt Flo allein in seiner Schulbank. Ari, „der zweitbeste Tischtennisspieler nach Jan-Ove Waldner“, ist an einer unerkannt gebliebenen Herzkrankheit verstorben. Flos Welt bricht zusammen. Oder, um es mit Flos eigenen Worten zu sagen: Sie fühlt sich verdammt riesig an. Um Flo ist unendliche Leere.
Frau Arnold, die Klassenlehrerin, von Anke Fonferek anfangs als routinierte, aber der déformation professionnelle nicht entkommene Kinder-Pädagogin gegeben, weiß merkwürdigerweise nichts von Aris Tod. Flo zuckt. Man spürt ihm an, wie er mit sich kämpft. Er kennt die Wahrheit über Aris Schicksal, aber sie auszusprechen, macht sie erst unumstößlich. Also erfindet er Geschichten, um Aris Abwesenheit zu erklären: von Ari im Olympiakader, von Ari im Olympischen Dorf. Später, als er auffliegt, bricht es verzweifelt aus ihm heraus: Er habe nicht gelogen; er habe nur erzählt, was normalerweise ohnehin passiert wäre. Und wieder staunen wir im Publikum, wie einfühlsam der Dramatiker Dorian Brunz seinen Protagonisten nachspürt.
Der unbekannte Mitschüler als Olympia-Star: Das entzündet die Phantasie der Klassenkameraden. Bald hat Ari Heldenstatus in der Klasse. Einerseits nimmt Flo seine Rolle als Geschichtenerzähler immer selbstverständlicher an; andererseits spürt er, dass er irgendwann in die Klemme gerät. Es ist herausragend, wie Tim Weckenbrock diesen Zwiespalt mit minimalen Mitteln kenntlich macht. Dass die Lehrerin nichts hinterfragt, ist die einzige kleine Implausibilität des Stücks. Doch da gibt es noch Flos Klassenkameradin Wendy. Eigentlich wirkt sie wie ein krasser Gegenentwurf zu dem verträumten, leicht depressiven Flo; Nadja Bruder gibt sie burschikos, zupackend, geradeheraus. Doch Wendy spürt, dass sie etwas mit Flo verbindet: Sie erkennt seinen „emotionalen Totalschaden“. Und zwar aus eigener Erfahrung: Bei ihr resultiert er aus einem Mangel an häuslicher Liebe. - Nein, Wendy wächst nicht in die Rolle des verstorbenen Herzensbruders und Intimus Ari hinein. Aber es entspinnt sich eine wunderbar zu beobachtende, scheue Zuneigung zwischen den beiden. Und irgendwann, spät erst an diesem traumhaft schönen Theaterabend, sieht Wendy zufällig, wie Flo mit seinem Vater an Aris Grab steht…
Schmetterball ist ein Auftragswerk für das Theater Oberhausen. Es zielt auf junge Menschen im Alter von zehn Jahren und darüber. Aber Dorian Brunz ist viel mehr als ein Jugendstück gelungen. Schmetterball ist großartige Theaterliteratur mit einer perfekten dramaturgischen Komposition. Tatsächlich saßen in der besuchten Repertoire-Vorstellung am Wochenende mehrheitlich Erwachsene. Um noch einmal die Worte von Flo zu benutzen: Brunz‘ Stück ist wie ein Topspin mit Unterschnitt, und den Schmetterball, den der Autor seinem regieführenden Doppelpartner dadurch erarbeitet, verwandelt Thomas Ladwig unwiderstehlich. Schmetterball ist ein Stück über Trauerbewältigung und Abschiednehmen. Es ist ein Stück darüber, wie man als Jugendlicher der Wahrheit ins Auge sehen kann. Es ist ein Mutmacher-Stück, ja, vielleicht gar ein Stück, das therapeutisch wirken kann: Flo wird erkennen, dass die Erwachsenen, einmal eingeweiht in sein Seelenleben, ihn ernst nehmen – jeder und jede auf seine oder ihre Art: „Wenn das der Ernst des Lebens ist, dass einem mal jemand ernsthaft zuhört, dann finde ich ihn vielleicht doch nicht ganz so schlimm“, wird Flo erleichtert sagen. Und man hofft, dass alle Erwachsenen im Publikum bei dieser Aussage genau zugehört haben.
Frau Arnold jedenfalls erweist sich als ungeheuer empathisch. Ihr gehört einer der wieder einmal besonders zauberhaften Poesie-Momente des Stücks, als sie für Flo ein Pfützen-Gleichnis erfindet. Die tolle Lehrerin mit den kleinen Fehlern und dem großen Herzen zeigt ihrem Schüler die verschiedenen Möglichkeiten der Trauerbewältigung auf – so wie Kinder verschiedene Wege finden, nach einem großen Regen mit den Pfützen auf den Straßen umzugehen, bis dass sie irgendwann verdunsten: ausgelassen hineinspringend, vorsichtig um sie herumzugehen und alles, was dazwischen liegt. „Vermissen verdunstet vielleicht nie“, erklärt sie. Aber wichtig sei es, die Trockengebiete zwischen den Pfützen zu entdecken, auf denen man fröhlich und ausgelassen werde.
Und dann haben wir da ja noch den Olympiasieger. Jan-Ove Waldner, Flos und Aris Idol, hängt als Star-Poster in Flos Kinderzimmer. Und Waldner weiß: Irgendwann wird jedes Poster lebendig. Man muss es nur lange genug anstarren. Also tritt er irgendwann heraus aus seinem Sieger-Plakat, wird zum väterlichen Freund und steht Flo zur inneren Zwiesprache zur Verfügung. Jens Schnarre gibt die Figur zart, verständnisvoll, milde – und mit der Melancholie des durch die harte Schule des Leistungssports Gegangenen, der sich wünscht, in seiner Jugend auch einen Freund wie Flo gehabt zu haben. Tim Weckenbrocks Flo ist bei aller Trauer widerständig. Er verteidigt kraftvoll seine Zuneigung zu seinem verstorbenen Freund und verleugnet nie seinen eigenen Lebenswillen. Großartig wechselt der Schauspieler von Humor zu Trauer, von Wut zu Witz, von Enthusiasmus zu Elend. Wenn seine Klassenkameradin Wendy allzu investigativ nach Aris Olympia-Erfahrungen fragt, gerät Flo in Panik. Jedoch nicht, weil er sich in seinem Lügen-Konstrukt in die Enge getrieben fühlt, sondern weil die Erinnerungen an seinen verstorbenen Freund ihn überwältigen. Wie Weckenbrock diese emotionalen Zusammenhänge nonverbal darzustellen versteht, ist große Schauspielkunst.
Nadja Bruders Wendy ist es, die verhindert, dass Flo sich in seiner Einsamkeit verkapselt. Auch das scheinbar so selbstbewusst und burschikos auftretende Mädchen kann träumen – nicht nur vom Pool im Olympiazentrum. Sie interessiert sich für Fußball und Astronomie. Einen Sternen-Luftballon in der Hand, bricht sie auf zum Planetarium, zum Nachtflug in die Galaxie. Mit einem wunderschönen Bild deutet Regisseur Ladwig an, dass diese Wendy vielleicht doch einmal den Platz von Ari in Flos Herzen einnehmen könnte. Wie hatte der Olympiasieger Jan-Ove Waldner zu Beginn gesagt: „Tischtennis ist in Bewegung gegossene Poesie.“ Bevor er sich wieder in sein Siegerlächeln-Poster zurückzieht, spielt er mit Wendy, Flo und Frau Arnold Tischtennis - unter einem Himmelszelt mit leuchtenden grüngelben Sternen. In Flos Hand verwandelt sich der Ball in einen Stern, strahlend in den gleichen Neon-Farben wie die Himmelskörper am Firmament. Wendys Astronomie und Flos Lieblingssport werden eins.