Niemand hört es, wenn er schreit
Ende Oktober vergangenen Jahres hatte Oliver Paolo Thomas am Rottstr5-Theater Kafkas Die Verwandlung als Solo mit dem Schauspieler Alexander Gier inszeniert. theater pur hatte berichtet: siehe hier. Schon drei Wochen zuvor hatte Alexander Ritter, Thomas‘ Kollege in der Leitung des kleinen Theaters unter dem Bochumer Bahndamm, sich mit dem Autor selbst beschäftigt. Auch bei About Kafka handelt es sich um einen Soloabend; die Rolle des Kafka und aller Nebenfiguren spielt Henry Morales. Motive aus dieser Inszenierung können eine Basis zum Verständnis des von Thomas inszenierten Kafka-Textes bilden. Gleichzeitig kann man Ritters Inszenierung als Kommentar zur Verwandlung lesen. Jedenfalls ergänzen sich beide Inszenierungen vortrefflich.
In einer intelligenten, beziehungsreich collagierten Textfassung begibt sich About Kafka anhand von Briefen und Tagebucheinträgen sowie Fragmenten und Assoziationsmaterial aus literarischen Texten des Prager Autors auf eine Identitätssuche. Ausschnitte aus dem erschreckenden, die entsetzliche Folter auf der Gefängnisinsel einer Diktatur beschreibenden Gleichnis „In der Strafkolonie“ werden ebenso zitiert wie wesentliche Teile aus der Erzählung „Das Urteil“. Letztere stellt den Vater-Sohn-Konflikt in den Vordergrund und behandelt damit eine reale Erfahrung Kafkas, dessen Verhältnis zu seinem autoritären Vater Hermann von Angst und Konflikten geprägt war. Der sensiblen, introvertierten und wenig selbstsicheren Persönlichkeit des Versicherungsangestellten und Autors Franz Kafka stand der Vater verständnislos, wenn nicht gar ablehnend gegenüber; des Vaters dominanter, ruppiger Umgang mit seinem Sohn trug zu den wachsenden Schuld- und Ohnmachtsgefühlen sowie Versagensängsten des Autors bei. So wird die Identitätssuche, die Alexander Ritter inszeniert, mal zur grüblerischen Introspektion, mal zum Spiegel einer gequälten Seele.
Kafkas berühmter, aber niemals abgesandter „Brief an den Vater“ aus dem Jahre 1919, ein literarisches Dokument des Vater-Sohn-Konflikts, findet selbstverständlich ebenfalls Eingang in Alexander Ritters Inszenierung. Oliver Paolo Thomas‘ Verwandlung hatte das schwierige, um nicht zu sagen inakzeptabel hierarchische Verhältnis zwischen Vater und Sohn mit schmerzhafter Deutlichkeit auf den zum Käfer mutierten Gregor Samsa übertragen. Alexander Gier war durch Ketten in seiner Entfaltung eingeschränkt gewesen, die sich manchmal wie ein Panzer über den Körper des (scheinbar oder anscheinend?) zum Käfer verwandelten Gregor legten. Schwere Ketten hatten auch den kleinen Raum des Theaters durchzogen. Auch Henry Morales hat in About Kafka als Alter Ego des Autors Szenen, in denen er wie Samsa auf dem Boden oder einem Podest als hilflos auf dem Rücken liegender Käfer erscheint. Und auch Henry Morales wird die Ketten noch anlegen…
Den empfundenen Mangel an Bewegungsfreiheit, den bei Alexander Gier Samsas Ketten symbolisierten, visualisiert Morales, indem er mit Kreide Gitter auf die Wände der Bühne malt, die an die Fenstergitter von Gefängniszellen erinnern mögen. Den Raum zwischen diesen Gittern füllt er mit den Anfangsbuchstaben der Worte aus dem Brief an den Vater. Bei seiner Introspektion thematisiert er die „Bruchstellen“ seiner Persönlichkeit, kommt bei der Beschreibung seiner Gefühle schnell von „leichtem Unbehagen“ zu Hilflosigkeit, Verzweiflung, Machtlosigkeit. Die permanente Bedrückung, die Unterlegenheitsgefühle führten bei Kafka bekanntlich zu einer Reihe von psychosomatischen Störungen, unter denen auch die Beziehung zu Kafkas Verlobter Felice Bauer litt. (Ritters Inszenierung zitiert selbstverständlich auch aus dem Schriftwechsel mit Felice.)
Fluchtpunkt und Rettungsanker war für Kafka die Literatur, doch auch bezüglich der Bedeutung und Qualität seines Werks zweifelte der Autor zeit seines Lebens: „Das Schreiben ist ein süßer, wunderbarer Lohn. Aber wofür?“, sagt Morales in Ritters Inszenierung. Und bekräftigt doch: „Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur. Ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein“. Er war ein einsamer Poet, der unter der Entfremdung von seiner Familie litt und letztlich wohl beziehungsunfähig war. Auch aus dem Brief an Max Brod, der sich zu seinem Nachlassverwalter aufschwang, wird zitiert: Brod erhielt den Auftrag, alle unveröffentlichte Literatur des Autors, alle Aufzeichnungen schriftlicher Art restlos zu verbrennen. Zum Glück der Nachgeborenen hielt sich Brod nicht an diesen letzten Willen…
An der Bochumer Rottstraße macht Henry Morales den Zwiespalt zwischen genialem Autor und an Minderwertigkeitsgefühlen leidenden introvertierten Kranken leider auf eine etwas unglückliche Weise deutlich: Die literarischen Zitate aus den Kafka-Werken gelingen zwar manchmal mit großer Intensität, doch abseits davon unterspielt Morales so sehr, dass seine Figur phasenweise wenig Charisma entwickelt. Dann helfen nur die Mittel der Regie: Gelungene Hell-Dunkel-Effekte, manchmal nur mit Hilfe einer Taschenlampe hervorgerufen, vor allem aber die wie fast immer an der Rottstraße ziemlich perfekte Musikauswahl, die von Rokoko bis Rolling Stones reicht. Großartig fügt sich Kompromats und Rebeka Warriors Song „Niemand“ (Ich werde ein Stein unter einem Stein) in die biographische Geschichte ein. „Niemand hört es, als ich schreie…“
Und dann, ganz zum Schluss, kommt sie noch einmal zum Einsatz: die Gregor-Samsa-Kette. Sie ist zur Lichterkette geworden; Morales hat sich mit Hilfe eines Overalls darin eingewickelt und steht nun vor uns, leuchtend, lächelnd, aber irgendwie auch etwas unglücklich. „Mit dem stärksten Licht kann man die Welt auflösen“, hatte er gesagt. Aber ob das Licht zur Befreiung wird oder die Kette zur Fessel, bleibt offen. An ein Happy End mag man nicht glauben, auch wenn 100 Jahre nach seinem Tod alle Kafka lieben…