Übrigens …

Der Schneesturm im Schauspielhaus Düsseldorf

Die surreale Reise in eine dystopische Zukunft

Das Spiel beginnt im Saal. Zwei Männer tauchen auf. Einer groß, herrisch, fordernd, mit schicker Lammfellmütze und pelzgefüttertem Mantel. Der andere unruhig, gebückt, die Strickmütze tief ins Gesicht gezogen, den Schaffellmantel eng um den schmächtigen Körper gebunden. Es ist bitterkalt, ein Schneesturm rast über das Land irgendwo in der russischen Steppe. Der Große verlangt einen Pferdeschlitten, er ist der Landarzt Dr. Garin (grandios: August Diehl). Er muss eiligst in ein abgelegenes Dorf, in dem eine dämonische Seuche ausgebrochen ist, die alle Infizierten in Zombies verwandelt. Es geht um Leben und Tod. Doch es gibt keine Pferde. Den immer aggressiver werdenden Forderungen Garins antwortet der Kutscher Perkhusha (hinreißend: Filipp Avdeev) mit einem herrlichen Kauderwelsch in Deutsch-Russisch. Schließlich gibt er nach und schafft ein geheimnisvolles Schneemobil herbei, das von fünfzig grotesk kleinen Pferdchen gezogen wird (beides fürs Publikum unsichtbar).

Das alles spielt sich noch vor der Bühne ab, auf der es inzwischen heftig zu schneien beginnt. Da rieseln Unmengen weißer Papierfitzelchen aus dem Bühnenhimmel und werden von Windmaschine und Schneebläser aufgewirbelt, während auf einer transparenten Videowand am Bühnenrand die Illusion permanenten Schneegestöbers herbeigezaubert wird. Tatsächlich gelingt es Serebrennikov darüber hinaus, mit seiner Kompanie Kirill & Friends und der herrlichen Sonja Beißwenger aus dem Düsseldorfer Ensemble - gleichsam als Schneekönigin unter sechs weiteren weiß gekleideten Figuren mit silber-glitzernden Accessoires - das mystifizierte Naturphänomen Schneesturm mit Tanz und Gesang zu personifizieren.

Aus dem Bühnenboden hat sich inzwischen eine runde Drehbühne erhoben, die von unseren brillanten Protagonisten Dr. Garin und Kutscher Perkhusha für ihre Höllenfahrt bestiegen wird. Jetzt können wir sie bei ihrem skurrilen deutsch-russischen Live-Spiel beobachten, oder aber auf die großen runden Projektionsflächen schauen, auf denen nur die bizarr vergrößerten Köpfe erscheinen, die von Kameras in ihren übergestülpten Kosmonautenhelmen aufgenommen werden.

Mit unglaublicher technischer Raffinesse werden die Abenteuer, Katastrophen, realen und irrealen Episoden, die Wonnen und Schrecken dieser Fahrt in eine dystopische Zukunft bebildert. Urkomisch gibt’s da auf abgedunkelter Bühne einen Liebesakt des Doktors mit der mächtig aufgepolsterten Varvara Shmykova als sinnesfreudige Müllerin, begleitet von ein bisschen Musik aus Schuberts Die Schöne Müllerin und den Eifersüchteleien des Müllers, einer Zwerg-Puppe. Später stoßen sie auf Wölfe und Drogendealer und Pyramidenzauberer. Es wird immer surrealer. Wenn Garin in einem Kannibalentopf gekocht oder im Fegefeuer verbrannt wird, ist nicht sicher, ob es Träume, Halluzinationen unter Drogeneinfluss oder Realität sein soll.

Über dieser absurden, überschwänglichen Bilderwelt zieht sich oben über die gesamte Bühnenbreite eine Videowand, auf der immer mal wieder ein Schlitten mit zwei Stabpüppchen durch eine reale Schneelandschaft gleitet und das Spiel auf der Bühne zu kommentieren scheint. Ein anderes Mal liefert eine Live-Kamera verzerrte Bilder einzelner Szenen oder Figuren, was das turbulente Geschehen allerdings eher verwirrt als unterstützt.

Am Ende dann die Animation der grotesken Schlussszene: der Schlitten bleibt mit der Kufe in der Nase eines Riesen hängen. Der surreale Überlebenskampf der beiden ist verloren. Das Ziel nicht erreicht. Die Schneeflocken trauern mit Tanz und Gesang in leicht verkitschten Glitzerkostümen zu Klängen aus Bachs h-Moll-Messe, was dann doch nicht so recht passt.

Vladimir Sorokin und Kirill Serebrennikov stellen sich mit dem Titel Schneesturm in eine literarische russische Schneesturm-Tradition. So ließ schon Puschkin 1831 in seiner unrealistischen Kurzgeschichte Der Schneesturm die Verehrer der schönen Marja sich im Schneesturm verirren, allerdings kommt es dann doch noch zu einer Art Happy-End. Bei Leo Tolstoi hingegen geht es in seiner 1856 erschienen Erzählung um eine recht realistische Schlittenfahrt Im Schneesturm, die auf einem tatsächlichen Erlebnis des Autors beruhen soll. Hier geht alles gut aus. Es endet mit dem Satz: „Nun haben wir Sie doch an Ort und Stelle gebracht“.

Im Düsseldorfer Programmheft heißt es, dass Sorokins Schneesturm „als Kondensat der russischen Schneesturm-Tradition“ erscheine, was allerdings nicht mehr in der Vergangenheit spiele, sondern „in einer bizarren Zukunft, die auf unheimliche Weise unsere Gegenwart spiegelt.“

Nach drei Stunden gab es Standing Ovation.