Blindes Auge, heiliges Ohr
Elfriede Jelinek: Das ist die mit den unlesbaren Stücken, in denen so viel Theater steckt. Die mit den ellenlangen Textflächen, den Gedankenströmen, die von wütenden Anklagen heutiger politischer oder gesellschaftlicher Zustände in antike Analogien, in banalste Kalauer und Wortspiele kippen. Beim Lesen ist das eine Zumutung, im Theater - manchmal - ein großes Fest. Jelineks Texte müssen durchkämmt und neu geordnet werden, die Regie muss massiv kürzen, Schwerpunkte setzen und möglichst bunt bebildern. Das ist eine Herausforderung, an der man leicht scheitern kann. Texte der österreichischen Nobelpreisträgerin zu inszenieren, ist etwas für die Großen der Theaterzunft. Jossi Wieler, Stefan Bachmann und Nicolas Stemann haben daraus schon unvergessliche Theaterabende gemacht; am Schauspiel Essen hat sich Hermann Schmidt-Rahmer vor 15 Jahren mit einem fulminanten, provokanten Abend über Jelineks Ulrike Maria Stuart hergemacht. Seinen neuen Jelinek-Abend hat das Essener Theater einer ganz jungen Regisseurin anvertraut, die damit die kleinste Bühne des Hauses, die ADA, bespielt. Die mutige Entscheidung wird belohnt.
Alina Fluck benötigt gerade einmal zwei Stunden inklusive einer fünfzehnminütigen Pause, um Jelineks 100seitige Textfläche Am Königsweg sowie das acht Jahre jüngere, nur 20 Seiten lange Nachspiel Endsieg auf die Bühne zu bringen. Beide Texte entstanden unmittelbar nach Wahlen. Als im Jahre 2016 jenseits des großen Teichs ein rüpelhafter Autokrat an die Macht gespült wurde, der sich mit oft geradezu infantilem Gehabe anschickte, die größte Demokratie der Welt in Schutt und Asche zu legen, konnte man bei allem Entsetzen noch lachen. Der neue König agierte wie ein wahrer Polit-Clown. Jelinek entsetzte sich darüber, dass ein Steuerhinterzieher und Finanzbetrüger, Sexist und Rassist zum König gewählt werden konnte und schrieb einen ihrer üblichen zwischen Groteske, Wutrede und Tragikomödie changierenden Texte. Sie erkannte die Gefährlichkeit des neuen Herrschers, aber dass der Mann und seine Politik Zukunft hatten, mochte sie damals ebensowenig glauben wie die meisten anderen Menschen auf diesem Planeten. - Als der König acht Jahre später erneut den Thron besteigt, lacht keiner mehr.
Alina Fluck erzählt den ersten Teil der Geschichte im Wesentlichen aus der Sicht einer Seherin. Wie so oft spiegelt Jelinek ihre an realen heutigen Vorfällen orientierte Satire in der griechischen Mythologie. Beim Königsweg ist es Ödipus, mit dem der König verglichen wird. Der griechische Tyrann kommt in diesem Vergleich gut weg: Denn der Mann, der seinen Vater tötete und seine Mutter ehelichte, tat dies nicht bewusst. Er wurde schuldlos schuldig, und als er erkannte, welche Sünden er auf sich geladen hatte, nahm er sich in vorauseilender Strafe das Augenlicht. Der König von jenseits des großen Teichs dagegen, der mit den Methoden des frühen 20. Jahrhunderts regiert und sehend schuldig wird, sieht keinen Anlass zur Selbstkasteiung. Attraktiv ist für ihn allenfalls der Gedanke, dass alle Wissenden, alle Seher bekanntlich blind sind. Doch dass es überhaupt Menschen gibt, die mehr sehen als er selbst, erträgt er nicht: Alle Seher mögen sterben. Dass er selbst sich mit der riesigen Sicherheitsnadel, die ihm gereicht wird, die Augen aussticht, bleibt Fake News.
Fluck folgt der Logik der beiden Stücke der österreichischen Nobelpreisträgerin und inszeniert diesen ersten Teil komödiantisch. Eine halbpompöse Fanfare kündigt den Auftritt des Königs im TV an; sein goldblondes Kükenhaar (wie es im zweiten Teil einmal heißt) dreht sich als Piktogramm auf dem Bildschirm. Das Schloss des aufgeblasenen Herrschers wird aufgepumpt: ein Weißes Haus … nein, eine weiße Kinder-Hüpfburg. Christopher Heisler übermannt sein Hang zur Albernheit, wenn er darin herumspringt. Dann masturbiert er wie ein ewig Pubertierender die phallischen Zinnen der Burg. Das Publikum kichert, kennt es doch den Sexismus und die Selbstverliebtheit des Königs.
Spitzzüngig bringen Jelinek und die Essener Schauspieler des Königs Untaten und Marotten zur Sprache. Der größte Golfer aller Zeiten schießt den Bildschirm des Fernsehers kaputt, er zwitschert nach Herzenslust in den Sozialen Netzwerken (heute hat er dafür ein eigenes Netz ausgeworfen), und bei Immobiliengeschäften und Steuererklärungen nimmt er es auch nicht so genau. Im Zentrum der Textfassung von Alina Fluck und ihrer Dramaturgin Katharina Rösch stehen aber die Fragen der Weltanschauung und der Gewaltanwendung. Eine Weltanschauung habe er nicht; er habe sich die Welt nicht anschauen können, sagt der König, der bis zum Beginn seiner ersten Amtszeit sein Heimatland nie verlassen hatte. Aber das man den Nachbarn in der Welt erst einmal durch den Vorgarten fahren muss - diese Weisheit liegt dem König im Blut. Denn Nachbarn zeichnen sich nach Überzeugung des Königs grundsätzlich durch aggressives Verhalten aus. Gewalt ist nicht nur ein legitimes Mittel zum Machterhalt. An den Grenzen stehen Scharen von Migranten. Der König weiß Rat: Waffen zu Menschenscharen! - Silvia Weiskopf, die eine angedeutete Jelinek-Frisur trägt, bekommt Szenenapplaus für ihr Solo über Macht und Gewalt, in dem irre anmutende Autokraten mit Kindern verglichen werden.
Die drei Schauspieler formieren sich in der Aufführung mal zu Shakespeare’schen Hexen, mal zu Witzfiguren, mal zu rituellen Tänzern oder mythologischen Priesterinnen, mal zu kritiklosen Followern oder gläubigen Groupies. Mit einem Volk voller Groupies fällt es leicht, vom König zum Gott aufzusteigen. „Ich bin die Wahrheit und das Leben“, enthüllt der König seinem Volk. Und greift Elfriede Jelinek damit vor, die den König im zweiten Text dieser Aufführung, der nur vier Wochen nach der erneuten Wahl des Königs im Jahr 2024 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg zur Uraufführung kam, erhebt: Für seine Anhänger, deren Kampfbereitschaft in Jelineks Text unmissverständlich anklingt, ist der König spätestens durch die Kugel, die ihn am heiligen Ohr streifte, zum Gott geworden. Absurd erscheint seine Wahl nicht mehr; gefährlich umso mehr. Er redet von Frieden und predigt Gewalt; Jelineks vor einem knappen Jahr abgegebene Prognosen scheinen sich bereits heute zu bewahrheiten. Die Autorin glaubt nicht mehr, dass die Entwicklung fort von der Demokratie noch einmal umkehrbar ist. „Ein verheerender Feuersturm“ geht über das Land - und bringt seinen radikalen Anhängern Sicherheit. Von Rassismus, Inklusion und Diversität redet niemand mehr. Endsieg hat Jelinek ihren Text genannt - der toxische Begriff ist nicht zufällig gewählt.
Jelineks Text steckt nach wie vor voller großartiger Wortspiele bis hin zum Kalauer. Und doch wirkt er pessimistischer, bitterer, düsterer. Diesmal zitiert er Homers „Ilias“, Celans „Todesfuge“ und immer wieder die Bibel. Die Autorin bezeichnet ihn als Langgedicht. Konsequent wählt Fluck in ihrer Inszenierung daher einen anderen künstlerischen Angang. Der humorvolle, manchmal geradezu fröhliche Unterton ist verschwunden. Düster raunend bringen die Essener Schauspieler den bisweilen apokalyptischen Text zu Gehör, immer wieder chorisch wie in der griechischen Tragödie. Auch dank der musikalischen Gestaltung durch Oskar Smollny entwickelt die Inszenierung nun einen unwiderstehlichen Sog. Ob es ein Adler ist oder eine Friedenstaube, die unaufhaltsam auf den Video-Bildschirmen flattert, lässt sich nicht so genau ausmachen. Aber: „Der sichere Frieden droht“, heißt es bei Jelinek. Er gilt für diejenigen, die den Feuersturm begrüßen - oder die zumindest die Klappe halten.
Zum Schluss läuft der Text nur noch stumm auf den Bildschirmen herunter. Im Land herrscht Sprachlosigkeit. Widerstand ist zwecklos, Zustimmung unnötig. Mit dem letzten Wort sagt das Volk seiner Anhänger Ja zu seinem König. Die Autokratie hat gesiegt. Die Meister sind jetzt nicht nur mehr in Deutschland, schreibt Jelinek in Anlehnung an Celan. Die Meister sind jetzt überall. Und Sulamith hat verloren.