Fragile Schönheit am Rande der Klippe
Über den rohen Charme der Kraftzentrale des ehemaligen Stahlwerkes legt sich ein monotoner Sound. Vorne ist fast über die ganze Breite der Halle ein trister grauer Vorhang gezogen, vor dem ein großer, schlanker Mann in dunklem Anzug versonnen hin und her schreitet. Dann ein kräftiges Dröhnen und eine kleine Frau taucht auf, auch sie ganz in Schwarz auf hohen High-Heels. Gemeinsam versuchen sie vergeblich, den Vorhang zu öffnen und kriechen schließlich unter den Stoffmassen durch. Das Publikum reagiert mit Gelächter und Applaus für Chef und Chefin der Kompanie: Blaï Mateu Trias und Camille Decourtye.
Dann öffnet sich der Vorhang ganz von selbst und gibt den Blick auf einen monochromen Bühnenraum frei, der von einer sieben Meter hohen Mauer aus schieferähnlichen, von Rissen durchzogenen Brocken umwandet ist. In einer Ecke hockt zusammengekauert ein Männlein, gleichfalls von Kopf bis Fuß in Schwarz - bis auf einen üppigen, weiß-strahlenden Bart (virtuos: Guillermo Weickert). Auf sein Gemurmel und Handzeichen hin kommt eine Schar weißer Tauben geflogen, durchquert den Bühnenraum und verschwindet wieder. Während man fasziniert diesem Schauspiel folgt, stürzt sich auf der anderen Seite des Bühnenraumes scheinbar aus dem Nichts ein Mann von der Mauer in die Tiefe. Flink und geschmeidig, als sei das gar nichts Besonderes, wiederholt der grandiose Künstler Julian Sicard seine Sprünge, später wird er noch als Tänzer, Musiker und Kletterer brillieren, wenn er nackt die Wand erklettert, um von oben das Spiel auf dem Akkordeon zu begleiten.
Wie eine Figur aus dem Jenseits durchbricht die elegante Performerin Noëmie Bouissou die Mauer- sie als einzige in bodenlangem Weiß - bewegt sich in unglaublicher Grazie, stellt die Frage nach Sinn und Bedeutung und lässt sie unbeantwortet. Camille kommt mit einem weißen Pferd auf die Bühne, unterhält sich mit ihm, sie scheinen sich zu verstehen.
Inzwischen sind auch die Übrigen auf der Bühne (Lucia Bocanegra, Oriol Pla, Marti Soler), mal stürzen sie aus den Wänden, mal hangeln sie die Mauer herab, um sich dann in grandiosen Tänzen zu einem einzigen Wesen zu verbinden und in unglaublich wälzender Beweglichkeit gleichsam den Raum zu verlebendigen.
Während die Tiere immer wieder geruhsam ihre Runden schaffen, scheint die Welt der Menschen zu verfallen: aus der Mauer sind Haufen steingrauer Brocken gebrochen, selbst die Kleidung löst sich auf. In großen Placken bricht das Schwarz von den Kostümen und reißt die Menschen mit sich zu Boden. Nur mühsam können sie sich gegenseitig auffangen. Aus der Metapher des klaren Schwarz-Weiß‘ werden Schattierungen des Grau. Der Metapher des Verfalls, des Zusammenbruchs steht die des Neubeginns entgegen, eindrucksvoll in einer feierlichen Szene erspielt. Auf einem Totenbett ist der Alte aufgebahrt, alle umstehen ihn in grau-verstaubtem Outfit und sprechen ihre Abschiedsworte, da greift er sich den weißen Blumenstrauß, steht auf, betont, dass es noch nicht „das Ende des Endes“ sei. Mit dem Vertrauen auf einen Neuanfang und den Worten: „Alles wird gut!“ verabschiedet sich ein grandioses Ensemble nach einem Abend der wundervollen Bebilderung von Zerfall und Hoffnung auf Neuanfang.
Das Publikum war zurecht begeistert.