Wo Vergangenheit und Gegenwart sich treffen
„Die Wiesen satt, der Roggen groß, der Apfel süß. Das Bild ist schön." - Es ist „Die Landschaft", die das sagt, neben „Brot" und „Dorf" eine der drei allegorischen Figuren in Miriam Unterthiners mit dem Kleist-Förderpreis 2025 ausgezeichnetem Stück. Die Landschaft wird auf der für die Aufführung verengten, ohnehin schon kleinen Bühne der „Kammer“ des Theaters Aachen durch einen stilisierten Berg dargestellt, der sich bald - einmal auf den Kopf gestellt - zu einer veritablen Alpen-Kulisse mausert. Ein niedliches Miniaturdorf baut sich vor dem Gebirge auf. Die Kostüme der Dorfbewohnerinnen und -bewohner zitieren Tiroler Tracht. Von fern hört man ein Alphorn blasen; später werden einige Szenen unaufdringlich und dezent von Tiroler Volksmusik begleitet. „Die Wiesen satt, der Roggen groß“ - das Leben in dieser Landschaft ist reinste, etwas kitschige Idylle.
Doch die Gegend am Brenner-Pass, im Niemandsland zwischen Nord- und Südtirol, ist toxisch. „Gewalttätige Ereignisse verändern nicht nur die Sprache und Menschen, die daran teilhaben, sondern auch die Orte, an denen sie stattfinden. Das gilt auch für die Landschaften“, hat Martin Pollack in seinem Buch „Kontaminierte Landschaften" geschrieben. Diesen Satz hat Unterthiner ihrem Theatertext vorangestellt. Durch das Dorf verlief einst die „Rattenlinie“, wie die Geheimdienste rund um das Ende des 2. Weltkriegs die Fluchtrouten nannten, auf denen sich hochrangige Nazis dem Zugriff der Alliierten entziehen wollten. Nationalsozialistische Verbrecher und Überzeugungstäter wie Josef Mengele, Klaus Barbie oder Adolf Eichmann reisten auf ihrer Flucht durch Unterthiners Transit-Ort. Sie wurden unterstützt von institutionellen Helfern wie der katholischen Kirche und dem Roten Kreuz sowie von den Menschen aus den Dörfern entlang der Route.
Auch Pollacks Vater Gerhard Bast, einst Gestapo-Chef in Münster und Linz und unter der Nazi-Herrschaft beteiligt an der Deportation und Ermordung von Juden und Zwangsarbeitern, nutzte die Rattenlinie. 1947 kehrte er aus Südtirol zurück, um seine Familie in Innsbruck zu besuchen. In der Region, in der Unterthiners Stück spielt, wurde er von seinem Schleuser erschossen. Man wird dem Namen Gerhard Bast im Verlauf der gut 80minütigen Aufführung begegnen, ohne ihn wirklich zuordnen zu können, wenn man nicht über die o. a. (dem Programmheft zu entnehmenden) Informationen verfügt. Der Mord an dem Mörder ist eine von vielen verdrängten und doch traumatischen Erinnerungen, die den Bewohnern von Unterthiners Dorf geradezu spukhaft zusetzen. Zentrale Metapher in Unterthiners kunstvollem Text ist das Brot: Aus dem Boden der kontaminierten Landschaft wächst Roggen, aus dem Roggen wird das Brot, und das Brot ist unverdaulich geworden. In Unterthiners Text findet die Wunde der Vergangenheit durch das Essen des Brots in den Körper der Bewohner. Das chorisch, in Jakob Weiss' Inszenierung von Nola Friedrich, Thomas Hamm, Philipp Manuel Rothkopf und Janina Sachau dargestellte Dorf wird so zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gezwungen und liegt mit sich selbst im Widerstreit zwischen teils ängstlichem und gewissensgeplagtem, teils scheinheiligem Verdrängen einerseits und neofaschistischen Tönen andererseits: „an manchen Stellen ein wenig braun der Boden in letzter Zeit“, konstatiert das Brot backende und Brot verzehrende Dorf mit einer eher beiläufigen, aber sich immer wiederholenden Metapher für den aktuell wieder erstarkenden Rechtsradikalismus. Der idyllische Ort, der heute wieder mit dem Tourismus sein Geld verdient, heißt die Fremden willkommen, die dort ihren Urlaub verbringen, doch „unter dem Lächeln lugen Reißzähne hervor.“
Unterthiners Text ist wie ein Langgedicht geschrieben. Lyrisch, rhythmisch, musikalisch, teilweise in einer Kunstsprache gehalten, wird er zu einer grandiosen Partitur der Vergangenheitsbewältigung. Komponiert wie ein Musikstück, wendet er vielfältige rhetorische Mittel an. Zur Komposition gehört auch die widerstreitende Art der Auseinandersetzung des Dorfs mit seiner Vergangenheit. Obwohl Aufführung und Text weit entfernt sind von psychologischem Theater, kann man die unterschiedlichen Strategien der Menschen zur Vergangenheitsbewältigung beobachten, die zum Teil innerhalb eines einzigen chorischen Monologs aufeinanderprallen. Dramaturgin Kerstin Grübmeyer vom Theater Aachen spricht von Komplementärfarben: Bilder und Gegenbilder werden mit perfektem Zeitmanagement gegenübergestellt. Elke Borkenstein tritt mit einigen Monologen als „Das Brot“ und „Die Landschaft“ auf: leise raunend, suggestiv, intensiv - ein faszinierender Fremdkörper innerhalb einer eigenwilligen, ohnehin fremdartigen Aufführung. Ebenfalls monologisch gibt Maurice Läbe „die unablässig brotessende Autorin“ - kein Selbstporträt Unterthiners, aber sicher eine Figur, die Hinweise auf die Ursache ihrer Beschäftigung mit dem Thema und die eigene Zerrissenheit der Autorin gibt, die in ihrer eigenen Familie ehemalige Fluchthelfer der Nazis vermutet. Läbes Texte als Autorin, mit denen sich Unterthiner auf keinen Fall identifiziert wissen will, fügen sich sprachlich nicht so recht ein in dieses der Perfektion sehr nahekommende Stück, in dem - auch dank der kongenialen Inszenierung von Jakob Weiss - in allen anderen Szenen jedes Wort an der richtigen Stelle sitzt. Läbe selbst sind die genannten Schwächen nicht vorzuwerfen: Der Schauspieler, ein Neuzugang im Aachener Ensemble, überzeugt mir seiner Mischung aus Humor, Selbstironie und Wut.
Humor, Selbstironie und Wut, häufige Brechungen, das Auftreten einer semifiktionalen Autorin - man merkt dem Text an, dass seine Urheberin an Elfriede Jelinek geschult ist. Manchmal kopiert sie die Mittel der Nobelpreisträgerin, aber sie findet zu einer eigenen, überzeugenden und eingängigen Sprache. Unterthiner selbst nennt vor allem den Schriftsteller und literarischen Kafka-Nachlassverwalter Max Brod (!) als Inspirationsquelle und lässt ihn in vorgeschalteten Zitaten sowie im Text selbst in Erscheinung treten. (Im Text wird Max Brod beim Besuch der Region das „Hotel Al Lupo“ empfohlen: Googeln Sie mal: Das hübsche Drei-Sterne-Hotel in Kastelruth wirbt mit dem Slogan: „Wo Vergangenheit und Gegenwart sich treffen“ - da stockt einem der Atem, wenn man gerade aus Unterthiners Stück kommt.)
Sprachlich ist Unterthiner Elfriede Jelinek näher als Max Brod, in ihren Schlussfolgerungen liegt sie näher an dem jüdischen Schriftsteller und Philosophen. Unterthiner ist versöhnlicher als Jelinek; sie setzt auf Brods Forderung einer „neuen Menschlichkeit“. Kehren wir noch einmal zur Geschichte von Gerhard Bast zurück, zum Mord an dem Mörder. Kunstvoll wird die Frage diskutiert, ob denn der Mensch immer ein Mensch sei. Ist ein Unmensch wie Bast auch ein Mensch, zumal wenn er zurückkehrt zu seiner Familie und der Krieg zu Ende ist?
„Peng. Ein Mensch war ein Mensch“, heißt es lakonisch, als Bast erschossen wird. Und das Dorf hat ein weiteres, seine Menschen belastendes Geheimnis. Leid liegt auch im erfolglosen Wegschauen. Das zeigt Unterthiners Text sehr deutlich, und so kommt die Autorin zu einer Schlussfolgerung, die in Zeiten, die von zunehmenden Eskalationen auch in der politischen privaten Diskussion geprägt ist, zur Nachahmung taugt: „Verzeihen ist die beste Art der Rache." Denn: „Ein Rest der Wunde bleibt an (den Schuldigen) hängen.“