Die Welt als Spielhölle
Spieler betitelt Johan Simons seine Inszenierung der Roman-Adaption von Fjodor Dostojewskijs Der Spieler. Das kann Einen meinen, aber auch Alle. Alle auf der Bühne, oder auch all die „Zocker“, die in unserer Gegenwart die Welt regieren und „die Zukunft aufs Spiel setzen“, wie es in der Vorankündigung des Theaters heißt. Damit ist die Erwartung hoch geschraubt.
Die große Bühne ist relativ pur: eine helle Drehscheibe, in der Mitte ein hochgebockter Tisch, auf dem sich irgendwann das Geld anhäufen wird, bevor es sich dann verflüchtigt, auf dem Boden verteilt wird oder gar ins Publikum fliegt. Auf dem Außenring rollt eine glänzende rote Kugel - stärker als zwei Fußbälle - und simuliert die ganze Bühne als einen einzigen Spieltisch, während auf der Bühnen-Rückwand gelegentlich ein Video von einem Spielsaal eingeblendet wird, auf dem man unter den Spielern auch den Intendanten des Hauses Johan Simons entdeckt.
Rechts in einer Nische hängt das Porträt Dostojewskijs, der gleichsam einem Geschehen zusieht, das er vor fast 160 Jahren in größter Eile innerhalb von 26 Tagen zu Papier brachte und dabei viel Autobiographisches einfließen ließ, wie seine Spielleidenschaft und die unglückliche Liebe zur Schriftstellerin und Feministin Apollinarija (Polina) Suslowa.
Noch bevor es richtig losgeht, nimmt die phantastische Stacyian Jackson - im eleganten weißen Hosenanzug mit Zöpfen bis auf den Po - Kontakt zum Publikum auf, fragt nach dem Vorhandensein reicher Verwandter und lohnender Erbschaften, amüsiert sich und nimmt in der ersten Reihe Platz, die frei gehalten worden ist für das Ensemble, das nach und nach eintrifft.
Auf der Bühne erscheint Alexej Iwanowitsch, der Ich-Erzähler des Romans und als Hauslehrer angestellt bei einem pensionierten, abgehalfterten und verarmten russischen General (kurios gegeben von Stefan Hunstein). Er beklagt das Heute und hofft auf das Morgen: „Morgen wird alles besser. Morgen wird alles richtig gut. Morgen wird alles anders!“ Mit dieser Hoffnung auf ein unbestimmtes Morgen beginnt und schließt das Stück. Auch nach zwei Stunden bleibt nichts als das Morgen. Wieder ist es Alexej, der sinniert: „Und Morgen? - Morgen bin ich… Morgen…Morgen…“. Doch diesen Alexej gibt es auf der Bühne gleich zweimal, ein bis auf die unterschiedliche Körpergröße exaktes Double sitzt da mit einem Roman in der Hand und greift schon bald in den Text seines Doppelgängers ein. Beide tragen Silikonmasken über den Kopf gezogen, die die Gesichter seltsam anonymisieren und ihnen die gleiche Frisur aufsetzen.
Die Idee, den umfangreichen Erzähltext des Romans so aufzuteilen und gelegentlich sogar zum Dialog zwischen beiden werden zu lassen, ist sinnvoll und spielerisch umsetzbar. Allerdings bleibt es dabei schwer nachzuvollziehen, warum die beiden Figuren gar kein eigenes Profil erhalten, was die Figur des Alexej durchaus hergeben würde: da ist einerseits der Akademiker, der drei Sprachen spricht und schreibt, aus verarmtem Adel stammt und den Hauslehrer gibt und andererseits die devote, hoffnungslos verliebte prekäre Existenz, die sich selbst zum „Pack“ zählt, sich „Null, Zéro“ nennt und von seiner angebeteten Polina „Waschlappen“ beschimpfen lässt. Und letztendlich der Spielsucht verfällt.
Johan Simon hält sich in seiner Inszenierung ziemlich streng an die Romanvorlage: Das Ganze spielt in dem fiktiven Kurort mit Spielhölle Roulettenburg. (Zwar fallen auch Städtenamen wie Baden-Baden und Homburg, sind aber wohl nicht konkret gemeint.) In burlesken bis zur Groteske gesteigerten Szenen erleben wir die Spielsucht und Erbschleicherei einer verarmten Generalsfamilie. Der Alte braucht Geld, um die hübsche vorgeblich adelige Französin Blanche zu heiraten, der er verfallen ist. Dann läuft da noch ein kleiner Franzose rum, der von der kreischenden Carla Richardsen gegeben wird und als Gläubiger des Generals die Stellung hält. Als unser Protagonist zwischendurch einen Tisch voll Geld gewinnt, wird er trotz oder wegen des plötzlichen Geldsegens von seiner Angebeteten, der Geheimnis umwitterten, brüsken Stieftochter des Generals Polina (eindrucksvoll: Abenaa Prempeh) verjagt und landet vorübergehend in Paris, wo er Blanche und dem halbtoten General zur Hochzeit verhilft.
Dann gibt es neben dem Warten auf den Spielgewinn, der in seinem Auf-und-Ab mit der Zeit Längen bekommt, noch das Gieren nach einer Erbschaft. Doch nicht die ersehnte Todesnachricht der Großmutter, sondern sie selbst erscheint und verspielt vor aller Augen zu deren Entsetzen ein beachtliches Vermögen. Obwohl die angeblich alte, kranke Dame von Simons mit der nicht einmal fünfzigjährigen Karin Moog besetzt ist, stirbt sie dann am Ende doch im fernen Russland. Vorher gibt sie eine bis in die Albernheit getriebene Rollstuhl-Nummer.
Die große Bühne wird alles in allem von einem exzellenten Ensemble temperamentvoll bespielt. Dazu gibt es außer der Live-Musik vom Kontrabass der Genevieve O’Driscoll immer wieder eingespielte Klänge, seien es Melodien von David Bowie oder Rock der Led-Zeppelin-Band. Dann ein Moment der Besinnung: nach heftiger Turbulenz ein Augenblick der Stille und ganz leise, wie von Ferne streifen Töne aus Bachs Matthäus-Passion den Raum, werden stärker und gehen über in den laut dröhnenden Schlussgesang: „Wir setzen uns mit Tränen nieder und rufen dir im Grabe zu: ruhe sanfte, sanfte Ruh“. Ein gewaltiger Sprung aus dem oberflächlichen Gerangel um Geld, um Liebesnot, Eifersucht und Erbschleicherei zur Grabesruh, der vielleicht nicht für jedermann mitvollziehbar ist.
„Wir sind doch am Ende alle Europäer“, heißt es im Stück. Aber dieses Häuflein Europäer - da ist auch noch ein zivilisierter Engländer drunter - kommt bei Johan Simons nur in der Musik andeutungsweise über das 19. Jahrhundert hinaus. Da wird weiterhin in Pferdekutschen gefahren. Am Ende bleibt unter ohrenbetäubendem Getöse nichts als der anfängliche Ruf nach dem Morgen, wie ihn schon Dostojewskij in seinem Roman erhob. Das erwartete Nachspüren einer Bedeutung fürs Heute, einer Ebene über das Roulett-Spiel und die menschlichen Abhängigkeiten hinaus, die die Gegenwart oder gar die Zukunft betrifft, ergibt die Inszenierung nicht.
Das Publikum dankte mit herzlichem Applaus für einen unterhaltsamen Theaterabend.