Übrigens …

Memories of Snow im Schauspiel Essen

Virtuelle Erinnerungen

Theater hat schon lange bewiesen, seine Grenzen immer wieder neu ausloten und definieren zu können. Auch der digitale Raum wird in diesem Prozess zunehmend zum Gegenstand künstlerischer Erkundung. So auch in der Augmented-Reality-Installation von Teona Galgotiu und Roman Senkl am Theater Essen.

Bei der Augmented Reality, also erweiterten Realität, werden Dinge aus dem digitalen Raum - wie Gegenstände, Zimmer, Szenerien und mehr - in die reale Welt integriert. Die Gaming-Branche hat sich dieses Konzept längst zunutze gemacht und auch das Theater findet zunehmend Anschluss und Verwendung für diese neue Möglichkeit des Erzählens.

Mit entsprechenden Brillen ausgestattet, bietet die neue kleine Bühne ADA im Schauspiel Essen sechs Personen die Möglichkeit, Motive aus Teona Galgotius Stück „I Can Only Fall Asleep If I Imagine It Is Snowing“ auf ganz neue Weise zu erleben. Im Mittelpunkt der Handlung steht dabei Cali, die sich in naher Zukunft unter anderem mit dem Problem des Vergessens bzw. des Erinnerns konfrontiert sieht. Ihr Vater leidet an Demenz und auch sie will nicht Gefahr laufen, entscheidende Momente ihres Lebens - wie emotionale Kindheitserinnerungen, die erste große Liebe, aber auch einschneidende Schicksalsschläge - zu vergessen. Um dem entgegenzuwirken, erschafft Cali digitale Räume, mit dem Ziel, diese Erinnerungen zu archivieren. Eben jene Räume entstehen und verschwinden in Sekundenschnelle vor den Augen des Publikums. Es wird eingeladen, sich frei durch die virtuellen Zimmer zu bewegen und sogar Dinge mit den eigenen Händen aufzuheben, zu betrachten und zu bewegen. Dadurch entdeckt das Publikum auch neben der auditiven Begleitung weitere Details und Informationen zu Calis Geschichte.

Insgesamt wirkt der Narrativ aber eher als nebulöser, motivischer Leitfaden durch die Installation und nicht wie eine tatsächlich erzählte Geschichte, wie man es sonst oft aus dem Theater gewohnt ist. Das eigenständige Erleben scheint damit deutlich im Vordergrund zu stehen. Durch kreative und abwechslungsreiche Gestaltung der Räume wird das Publikum dank der modernen Technik in ganz neue Welten befördert. In einer von Calis frühesten Erinnerungen findet sich die Gruppe in ihrem Kinderzimmer wieder, welches komplett aus Pappe gebaut zu sein scheint. Prägnant manifestieren sich in dieser Pappwelt unpassend organische Strukturen, nachdem sich Cali langsam der Krankheit ihres Vaters bewusst wird. Auch die Papierhäuser, die man entdeckt, wenn man aus dem Fenster sieht, beginnen plötzlich zu brennen.

In dieser Manier wandert das Publikum von einer Erinnerung zur nächsten. So erlebt es in einem Klassenzimmer Calis Schulzeit und Abschlussball und schwebt danach in einer Raumstation, in der schwerwiegende Entscheidungen getroffen werden müssen. Die Ästhetik erinnert dabei stets an jene alter Videospiele. Im Laufe der Zeit schwingen auch weitere Themenkomplexe subtil mit, wie unter anderem Familiendifferenzen, Verlusterfahrungen und Umweltkatastrophen. In einem späteren Raum scheint jede Person im Publikum durch eine Art Portal eine andere Version der zerstörten Erde zu sehen, später wird es Zeuge einer holzschnittartigen Auseinandersetzung während einer Familienfeier.

Galgotius‘ Stück umfasst somit eine ganze Reihe relevanter Problematiken, leider bietet das Stück aber nur einen losen Rahmen für die Installation. Der Fokus des Abends scheint eher auf dem Erlebnis zu liegen - die Audioeinspielungen setzen das Publikum in den gewünschten Kontext damit es selbst die von der unsichtbaren Erzählerin errichteten Konstruktionen erkunden kann. Ein stringenter Narrativ ergibt sich aber nicht wirklich und es entfaltet sich eher eine schemenhafte Collage von Erinnerungen, Eindrücken und Impulsen.

Roman Senkls Augmented-Reality-Installation schafft es damit zwar das Publikum in verschiedenste Szenerien zu entführen, bietet dabei aber mangels nachvollziehbarer Handlung keinen Raum für emotionale Involviertheit. Wer jedoch Lust hat, einen Eindruck der potentiellen Theaterwelt von morgen zu gewinnen, wird hier eine neue Form des Erlebens in einem hybriden Raum zwischen Realität und Digitalität erfahren.