Dystopie zur Friedenshymne
„Erste Vorstellung“ steht über der Bühne geschrieben. Es ist die erste Vorstellung des vom neuen Kölner Intendanten Kay Voges neu zusammengestellten Ensembles in der ersten Vorstellung der neuen Spielzeit - und wir, das geneigte Publikum, können erste Vorstellungen entwickeln über das, was uns in der neuen Ära erwartet. Es sei „die Stunde da wir nichts voneinander wussten“, heißt es in Anlehnung an einen Handke-Titel im Programmheft. So wie in Handkes stummem Stück unzählige Personen über einen Platz defilieren, lässt Voges zum Spielzeitauftakt große Teile seines neuen Ensembles völlig stumm ein dunkles, fast archaisch wirkendes Dorf bevölkern. Die Phantasie des Publikums ist gefragt: Es muss den auftretenden Figuren Biografien geben.
Eine Woche zuvor war die alle Sinne entfachende, zwischen Schauspiel und Bildender Kunst mäandernde Uraufführung von FC Bergman mit Guernica Guernica (theater:pur-Besprechung siehe hier) zu einem fulminanten Höhepunkt der Ruhrtriennale geworden. Voges‘ Inszenierung am Schauspiel Köln weist durchaus Ähnlichkeiten mit der Arbeit der belgischen Gruppe auf. Wieder erzählt ein herausragendes Ensemble eine Geschichte in nur dreieinhalb Bildern; wieder spielt die Sprache keine Rolle, und wieder überzeugt die Inszenierung durch ihre visuelle Gestaltung. Die Bühnenbildnerin Pia Maria Mackert hat das gesamte Dorf auf die Bühne gestellt: in der Mitte die Kirche, zur Rechten und Linken die Häuser, durch deren Türen und Fenster man einen voyeuristischen Blick in die Lebenswelten der Bewohner werfen kann, und ganz hinten links, noch hinter den Hütten, deutet sich so etwas wie ein Stall oder eine primitive Werk- oder Wohnstatt an. Die entdeckt man erst im Laufe der Aufführung; ein einem Hitchcock-Film entsprungen scheinender sinisterer Mann mit wirrem Haar und gefährlich blitzendem Messer, verkörpert von dem sonst meist so adretten Frank Genser, werkelt ab und zu darin herum und schleicht dann furchterregend über die Dorfstraße. Einmal schwingt er bedrohlich eine Kettensäge. Falls die Kölner Tatort-Kommissare uns befragen sollten: Einen Mord können wir nicht bezeugen. Es kann ja sein, dass es sich nur um den Dorf-Metzger handelt. Aber unsere Phantasie ist entflammt…
Man denkt nicht nur an Guernica Guernica oder an FC Bergmans ebenfalls in einem gruseligen Dorf angesiedelte Geschichte „300 el x 50 el x 30 el“ (siehe hier), wenn man diese Bilder sieht. Mehr noch erinnert man sich an Die Borderline-Prozession, Voges’ vielleicht größten Erfolg während seiner grandiosen Zeit als Intendant des Schauspiels Dortmund (siehe hier). Die gedankliche Tiefe des neun Jahre alten, höchst komplexen Dortmunder Totaltheaters erreicht Imagine nicht. Aber in ihrer visuellen Konzeption weist die aktuelle Produktion frappante Ähnlichkeiten auf. Erneut führt eine Kameraschiene am ganzen Dorf entlang; erneut kann man mit Hilfe der Videotechnik in die Häuser und in die Kirche hineinschauen und auf intimste Distanz das Leben der Dorfbewohner verfolgen. Es seien die Machtzentren des Dorfs, auf die man schaue, bemerkte meine Begleiterin. Es sind jene Machtzentren des Lebens, in denen Missbrauch und Gewalt oft nicht weit sind: Kirche, Straße, Büro und Schlafzimmer. Doch falls uns die Kölner Tatort-Kommissare oder Kirchenskandal-Aufklärer befragen sollten: Missbrauch können wir nicht bezeugen. Aber schaurig wird unsere Phantasie entflammt…
Kein Hahn kräht. Es scheint, als sei fast immer Nacht. Es regnet oft. Es ist starker Dauerregen, kein Sturm, kein Niesel - die Art von Regen, die aufs Gemüt geht. Die Menschen in diesem Dorf - noch sind wir in Akt 1 - wirken deprimiert. Sie bewegen sich in Zeitlupe, sie lachen nicht, sie interagieren kaum. Lavinia Novak geht ins Büro. Wenn sie sich nicht mit den immergleichen Trinkepäckchen tröstet, wirkt sie ultradepressiv. Sie liest ein Buch über Eifersucht. Ein Buch über Einsamkeit erschiene passender: Schließlich redet keiner mit keinem. Andreas Beck wird an seinem verwundeten Bein verarztet - oder bezahlt er gerade Prostituierte? Mit unbewegtem Gesicht schaut er in die Welt hinaus. Im Fenster des Nachbarhauses sitzt die schwarz gekleidete Anke Zillich - beklemmend emotionslos, wie einem Hopper-Gemälde entsprungen. Auch Anja Lais taucht einmal im grauen Morgenmantel in dem Fenster auf und blickt ihren Besucher an wie eine Frau, die vom Leben nichts mehr erwartet. Vor der Kirche steht unbeweglich der spillerige, ebenfalls ganz in Schwarz gekleidete Uwe Rohbeck wie ein misstrauischer oder missgünstiger Galgenvogel. Eine Frau betastet ihre nackte Brust - ihre mutmaßliche Angst vor der Krankheit kann sie niemandem anvertrauen. Ein alter Mann bricht auf der Straße zusammen. Die Posaunen von Jericho erklingen. Langsam wird Uwe Schmieder entkleidet; seine Leiche wird mehr schlecht als recht mit einer billigen Plastikplane bedeckt und bleibt unbeachtet.
„Life, death, life again / Sky, ground, sky again / Day, night, day again.“ Angie McMahons „Making It Through“ scheint die Eintönigkeit und immergleiche Wiederholung des Dorflebens abzubilden. Doch McMahons Song beschreibt am Ende das Erwachen aus der Depression, das Licht am Ende des Tunnels. „Life gets Light again.“ Lavinia Novak macht sich hübsch, die Schmerzensfrau lächelt, Obst und Blumen werden gebracht, sogar die versunkene Hopper-Frau Zillich hat plötzlich ein rotes Band im Haar. Es entsteht so etwas wie eine Gemeinschaft, wie Kommunikation. Und so etwas wie Hoffnung, dass der im Titel der Aufführung zitierte Lennon-Song wahr werde: „Imagine all the people living in harmony!“
Der Tote steht wieder auf - ein Leidensmann, aber auch eine Erlöserfigur. Zu Orgelmusik wird er ganz kirre… um nicht zu sagen: quicklebendig. Uwe Schmieder spielt so wie wir ihn aus seiner Dortmunder Zeit unter Kay Voges kennen: Er gibt einen verschmitzten Filou und Leute-Verarscher. Er lässt sich zum Christkönig krönen, verabreicht den bigotten Gläubigen das Abendmahl, streckt ihnen die Zunge raus und lacht sich kaputt. „Alors on danse“, fetzt die Musik los - Tommy Finke hat einen grandiosen Soundtrack zu Voges‘ Bildertheater gesampelt.
Bigotterie und Gotteslästerung führen zu Bild 3 der Aufführung. Düsenjäger überqueren das Dorf. Lavinia Novak geht wieder ins Büro: in Militäruniform. In ihrem Office werden nun Soldaten rekrutiert. Auch ein Mann mit einem Baby im Arm bekommt ein Maschinengewehr in die Hand gedrückt; ein Deserteur wird abgeholt. The Cures „Alone“ gibt nun den Ton an: „This is the end of all the songs we sing…“ Paare, die sich heimlich zu separieren versuchen, werden unglücklich; jemand steigt mit Gasmaske aus einem vernebelten Haus. Die nach wie vor hyperrealistischen, an Gregory Crewdsons inszenierte Fotografien erinnernden Bilder werden brutaler, blutiger, waffenstarrend, und auch der Sound der Musik wird im heraufziehenden Krieg disharmonischer. Aber Voges inszeniert auch die Schönheit des Schreckens - bis zum bitteren Ende, als Leichen das dörfliche Schlachtfeld bedecken.
Anke Zillich hat überlebt. Ein flitterbuntes, altes, prinzessinnenhaftes Schneewittchen ist sie geworden. Die Zwerge begleiten sie, als sie wunderschön John Lennons „Imagine“ singt. Kay Voges glaubt nicht an Lennons Utopie. Alexander Kerlin, der die großartige Dramaturgie dieser Aufführung erdacht hat, findet in Lennons Text sogar eine versehentliche Dystopie: „eine lauwarme Welt voller herumflatternder Friedenstauben, in der die Zeit sich dehnt und man sich vor lauter Langeweile erschießen will“ und in der die Notwendigkeit zur Erschaffung einer besseren Welt entfällt. „Above us only sky“? - Über uns völlige Leere? „Sky, ground, sky again“ - die immergleiche Wiederholung. Was für eine grausliche Vorstellung am Ende dieser hammerstarken Vorstellung!