Die Isolation der Frustrierten und Gelangweilten
„Nein!“ - Die Antwort kommt ohne große Emotion und ist doch gnadenlos direkt. Sonja hatte ihre Stiefmutter Elena gefragt, ob diese glücklich sei. Erschrocken hält man im Publikum inne angesichts der knappen, brutal klaren Antwort. Dabei liegen die Fakten doch längst auf dem Tisch.
„Bist du glücklich?“ Die Frage ist überflüssig wie ein Kropf. Es sieht ein Blinder mit dem Krückstock, dass niemand glücklich ist auf dem Gutshof, den Onkel Wanja für seinen einst als Kunstprofessor erfolgreichen, inzwischen widerwillig auf sein dörfliches Gut zurückgekehrten miesepetrigen, larmoyanten, selbstmitleidigen Schwager verwaltet hat. Alexander Serebrjakow bezeichnet sich sogar selbst als „Ekel und Despot“. Falls sich die auf dem Gut lebenden Personen je mit ihrem Leben arrangiert haben, so sind spätestens seit der Rückkehr dieses egoistischen Tyrannen all ihre Lebenslügen vergebens. Was folgt, ist Stillstand im Unglück. Tschechows Onkel Wanja weist die für die dramatischen Werke des russischen Schriftstellers typische Konstellation auf: Eine ausgelaugte, antriebslose Gesellschaft vergeht in Langeweile, und „Konflikte der materiellen Existenz treffen auf Midlife-Krisen und ausgeträumte Träume“, wie es Lennart Göbel, der Dramaturg der Kölner Aufführung im Programmheft formuliert.
Der israelische Regisseur Itay Tiran hat den Vier-Akter auf 90 Minuten eingedampft und inszeniert doch vollkommen werktreu. Dass das Stück nicht im Heute spielt, ist der kargen Handlung anzumerken, aber Unglück und innerfamiliäre Isolation sind zeitlos. Eine elegante, abstrakt gehaltene Bühne löst das Stück aus seiner zeitlichen Verankerung. Das Publikum ist um eine quadratische Spielfläche herum platziert, die wiederum von schwarzen, lehnenlosen Sitzbänken und -blöcken eingerahmt ist. Obwohl sich meist alle Schauspielerinnen und Schauspieler auf dieser Bühne befinden, erscheinen sie vollkommen voneinander isoliert. Über der schwarzen Fläche hängt ein weißes Plastikdach, das ein kaltes, alles andere als heimeliges Licht spendet und auf das es manchmal regnet. Das führt zu einem der wenigen überraschenden Effekte, die sich Tiran in seiner Inszenierung erlaubt und der noch nicht verraten werden soll.
Leise Elektromusik erklingt beim Einlass. Sie wird von den elegischen Tönen einer E-Gitarre abgelöst, die ausgerechnet Uwe Rohbeck erzeugt, der den raubeinigen Schwager Alexander spielen wird. Auch der manches Mal cholerische Professor ist innendrin verletzlich und einsam. Langsam und leise sprechen die Schauspieler ihre ersten Worte, aber ihre Stimmen werden durch Mikroports und Hall verstärkt. So holt die Regie den Stoff zu Beginn ganz langsam aus der Vergangenheit hervor, bevor sich dieser leichte Verfremdungseffekt verliert. Und dann: sehen wir eine implodierende Familie, die durchaus exemplarisch sein könnte. Entgegen Elenas Selbstdiagnose ist die Familie nicht notwendigerweise geistlos. Sie zerbricht an Passivität, Langeweile und Selbstbezüglichkeit.
Das geschieht nicht ohne Komik. Tschechows Stück gilt schließlich als Tragikomödie. Tirans Inszenierung ist ungeheuer fein gearbeitet. Die Isolation der Figuren so deutlich auszustellen, hat allerdings ihren Preis. Auch wenn es unerfüllte Liebessehnsüchte gibt (Sonja zu Astrow, Astrow zu Elena), auch wenn es Hass und Überdruss gibt (und Szenen, in denen diese Gefühle ausbrechen), knistert es nicht zwischen den unglücklich Verliebten, und auch die Konflikte schlagen keine Funken. Nur die Wiederannäherung von Sonja und Elena geht auch als „Beziehungskiste“ zu Herzen. Das Ensemble hat es nicht einfach mit diesem Konzept. Und doch vermag es zu beeindrucken: Jede der sechs Figuren entwickelt eine eigene, individuelle Form, ihrem Unglück Ausdruck zu verleihen.
Alexanders Unglück ist auch körperlich zu spüren. Uwe Rohbeck gibt nicht nur ein gichtkrankes Ekelpaket, sondern er wird auch von seinem eigenen Verfall angeekelt. Das angebliche ehemalige Superbrain (ob Serebrjakow wirklich eins war, kann bei Tschechow durchaus in Zweifel gezogen werden) muss beim Aufstehen und bei seinen ersten Schritten gestützt werden, doch der körperlich eher kleine, knochige Uwe Rohbeck strafft sich, richtet sich auf in einem grotesken Versuch, Würde und Macht auszustrahlen, und erweckt doch allenfalls Mitleid als die lame duck von vorgestern. Seiner um vieles jüngere Frau Elena, die ihrer Schönheit wegen bewundert wird, sieht man bei Birgit Unterweger die ersten Spuren des Alters an. Sie begegnet ihnen mit einem stets leicht affektierten Verhalten, bis dass sie im Gespräch mit ihrer Stieftochter Sonja endlich zur Ehrlichkeit mit sich selbst findet. Astrow, der Mann zwischen den beiden Frauen, der sich längst nicht mehr für die Liebe zu interessieren scheint, hat nicht den spitzen Humor typischer Tschechow’scher Ärzte-Figuren. Bei Frank Genser wirkt er ungewöhnlich konfrontativ und rau; dass sein Astrow nach Elena „süchtig“ ist, vermag man beim besten Willen nicht zu glauben. Lavinia Novak wiederum hat gegen Ende ihre starken Szenen, als ihre schüchterne, ihre Eigeninteressen stets zurückstellende Sonja endlich den Mut der Verzweiflung fasst und versucht, wenigstens einige Menschen aus ihrem Umfeld vor dem Untergang in der Depression zu retten. Sie selbst opfert sich auf: „Ich bin nicht weniger unglücklich als du“, sagt sie am Ende zu Wanja., „aber ich ertrage es bis an mein Lebensende.“ Und da schließen wir sie, die so lange so blass war, endgültig ins Herz.
Es sind vor allem der massige, seine Depression mit unendlicher Zartheit spielende Andreas Beck als Wanja sowie das uralte Hausmädchen Marina des Uwe Schmieder, die am meisten berühren. Von der einstmals so „strahlenden Persönlichkeit“ des Wanja ist wenig übrig geblieben, aber von Elenas pauschalem Vorwurf der „Geistlosigkeit“ muss er sich kaum angesprochen fühlen. Er erwacht noch einmal kurz aus seiner Depression, als er vernimmt, dass Alexander das längst Sonja versprochene Gut verkaufen will. Aber schnell sackt er wieder in sich zusammen, so wie er auch alle anderen Vorgänge um ihn herum nur noch mit unendlich resigniertem Schweigen wahrnimmt.
Die gute Seele des Hauses aber ist das Dienstmädchen Marina, die all diesen verlorenen und manchmal auch selbstsüchtigen Menschen um sie herum mit Zuspruch, Trost und Realitätsverweigerung begegnet. Ob sie begreift, was um sie herum geschieht? Sie nimmt in den Arm, sie versucht auf unbeholfene, aber liebevolle Weise zu schlichten und kocht den Unglücklichen Lindenblütentee. Und tatsächlich: Wie Lindenblütentee ist Schmieders Marina auch für Itay Tirans Inszenierung. Sie beruhigt, sie berührt, man bedauert sie. Man liebt sie. Und weiß, es gibt noch einen Menschen, der die vollständige Isolation dieser Gesellschaft aufheben könnte. Man fühlt sich bei Marina wohl. Dumm nur, dass sie anders als der Rest der Inszenierung völlig unzweifelhaft aus der Vergangenheit stammt.