Alles für eine Achterbahnfahrt
Die Welt ist in zwei geteilt. Im „Nabel” das Paradies, ähnlich einem Vergnügungspark mit allerlei Annehmlichkeiten wie Zuckerwatte und allem voran: Achterbahnen. Entfernt man sich dieser Idylle trifft man auf den „Rand”, welcher durch eine Mauer vom „Nabel” getrennt wird. Dort herrscht hingegen Armut und Unzufriedenheit. „Sie” stammt aus dem Rand und sehnt sich nach dem Nabel, nicht nur, weil ihr Vater sie und ihre Mutter verlassen hat, um im Nabel zu arbeiten, sondern auch, weil eine „Fahrt mit der Achterbahn” als ultimatives Ziel für die Bewohner des Nabels gilt. „Ich hole mir Vergnügen und Leichtigkeit - und Zuckerwatte.”, soweit der Plan.
Dafür muss „Sie” allerdings mehrere Stationen durchlaufen. Ihre Reise beginnt an der Mauer, wo sie von der „Security” abgewiesen wird. Zusätzlich versucht „A”, ein Mann an der Mauer, sie immer wieder von der Rückkehr in den „Rand” zu überzeugen. Davon unbeirrt arbeitet „Sie” sich dennoch hoch: zuerst in der Security, dann als Maskottchen des „Nabels” - dem Flux, einer Mischung aus Fuchs und Lux - und schließlich als „Head of Maskottchen„, zuständig für die Entwicklung neuer Maskottchen und Dienstpläne. Und damit dem Ziel endlich näher? Vom „Rand” über die Mauer in den „Nabel” bis zum „Zentrum des Nabels” in welchem die ersehnte Achterbahn steht, scheint das Ziel zum Greifen nah, aber in Sarah Kittlers Mysteryland muss „Sie” lernen, dass sich Klassen nicht so einfach überwinden lassen.
Überwindung ist in Anne Habermehls Inszenierung ein omnipräsentes Thema. „Sie” überwindet nicht nur die Mauer vom „Rand” in den „Nabel”, sondern auch ihre im „Rand” gesprochene Muttersprache. Sprache gilt im „Mysteryland” grundsätzlich als Aushängeschild - verstanden wird „Sie” im Nabel nur, wenn sie ihre Herkunftssprache nicht preisgibt. Diese könne man ohnehin nur in den Telefonzellen sprechen, wenn man „nach Hause telefoniert”.
Gleich drei Telefonzellen bilden das Kernstück des Bühnenbilds. Hinter ihnen zieht sich ein Stahlkäfig mit länglichen LEDs an der Wand entlang, der mal als Mauer, mal als buntes Gerüst des Vergnügungsparks dient. Neben der eigentlichen Geschichte findet sich zudem zwischen den Szenen immer wieder ein „Chor” in den Telefonzellen ein, der losgelöst von der Handlung mehrere Lebensrealitäten aufzeigt. Und das eigentlich immer nach derselben Manier: Mancherorts ist Umstand XY gut, mancherorts schlecht und mancherorts spielt er keine Rolle. Nach diesem Schema werden zwar diverse Themenkomplexe (darunter Migration, Identität und Politik) angesprochen, aber in der Haupthandlung nicht weiter thematisiert oder verhandelt. Die mantrahaften Einschübe des „Chors” verfallen damit schnell zu Plattitüden, die zwar Impulse einwerfen, sonst aber keinerlei Relevanz entfalten.
Überraschend, wenn auch nicht unüblich für zeitgenössische Stücke, werden die ernsten Themen des Werkes anhaltend mit witzigen Elementen konterkariert und damit aufgelockert. So heißt es an einer Stelle bspw. „Tchibo, das muss das Paradies sein” und auch „Julia Leischik”, welche in einer erfolgreichen TV-Show vermisste Familienmitglieder sucht, darf der Komik wegen erwähnt werden. Mehr Albernheiten gibt es mit dem von Christoph Rufer aufwendig gestalteten Kostüm des Maskottchens Flux, welches mit einer ausgiebigen Balletteinlage präsentiert wird.
Elina Schkolnik, die „Sie” spielt, hat dahingehend keine Hemmungen - mit der Naivität eines Kindes, das sich nach Höherem sehnt, wandelt sie schrill und laut zwischen den verschiedenen Stationen ihrer Reise und den stillen Erkenntnissen in ihrem Inneren. Bettina Scheuritzel gibt hingegen als „Security” das ernste Pendant. Geschickt verkörpert sie das verklärt idealisierte Bild der Arbeiterklasse, dessen Ambivalenz sie feinfühlig zwischen Loyalität und Selbstbetrug balanciert. Torsten Borms kurze Auftritte als „A” und später „B” überzeugen mit einer ruhigen Wut und authentisch internalisierten Verzweiflung.
Sarah Kilter schrieb „Mysteryland” als Auftragswerk des Theater Aachen. Mit ihren vergangenen Stücken erregte die Autorin bereits bei den Berliner Autor:innentheatertagen und der „Theater heute” Aufmerksamkeit. Auch mit ihrem neuesten Werk scheint sie den Zeitgeist zu treffen. Assoziationen zwischen DDR und BRD, aber auch des globalen Südens und Nordens, bleiben bei ihrer Metapher zwischen „Nabel” und „Rand” nicht aus. Der Impuls, diese überspitzte Dichotomie zwischen arm und reich in einer fast märchenhaften Form darzustellen, und darin Themen wie Klassenkampf, Status und Identität einzuweben, strotzt vor klugen Ideen und einer bemerkenswerten Rhetorik. Umso erstaunlicher ist dahingehend die Diskrepanz zwischen der im Stück häufig thematisierten identitätsstiftenden Sprache und der tatsächlich angewandten Ausdrucksweise. Die Sprechweise der Figuren erinnert an Jugendsprache, wirkt dabei aber wenig authentisch, sondern teilweise fast gewollt locker. Dabei führen verdeutschte englische Redewendung wie „Ich lief die Extrameile” und die Erwähnung popkultureller Phänomene (wie die bereits angesprochene Nennung bestimmter Läden oder TV-Persönlichkeiten) eher dazu, sich von der Handlung und dessen Ernsthaftigkeit und Authentizität zu entfernen. Auch das Ziel, eigentlich nur mit der Achterbahn zu fahren, fungiert zunächst als passende Metapher - gerade, weil eine Fahrt selbst den Menschen aus dem „Rand”, die sie gebaut haben, verwehrt bleibt und sogar manche aus dem „Nabel”, wie „Security”, sie nie gefahren sind. Durch die starke Plakativität und die häufige Wiederholung verliert dieses Bild jedoch zunehmend an Effekt und wirkt fast albern.
Anne Habermehls Inszenierung betont diesen Umstand nur. Ähnlich unpassend wie die kontextlosen Einwürfe des Chors und die Witzeleien u.a. über Maskottchennamen (wie „Krokant”, eine Mischung aus Krokodil und Elefant) sind auch die Einsätze, sowie die Komposition der gewählten Musik von Daniela La Luz. Damit bewegt sich die Inszenierung im Grunde permanent in Unstimmigkeiten zwischen Inhalt, Sprache, Stimmung und Intention.
„Mysteryland” zeichnet zwar eine eindrückliche Metapher über die Spaltung der Gesellschaft und sprudelt nur so voller spannender Ideen und kluger Rhetorik, diese entfaltet aber bei so vielen Unstimmigkeiten leider weder künstlerische noch inhaltliche Wirkung.