Übrigens …

Schleuderdrama im Theater am Alten Markt Bielefeld

Was aus der Sehnsucht nach einer konfliktarmen Beziehung so alles werden kann

Ja spinnen die denn? Ja spinnen die Bielefelder Theatermacher denn total? Machen diesen Hype um KI mit und stellen ein ganzes Theaterstück dazu auf die Bühne! Die sind ja noch verrückter als die in Kleinbonum. Oder?

Gemach. Natürlich ist es sinnvoll, dass auch auf der Bühne die Auseinandersetzung mit Fluch und/oder Segen der KI stattfindet. Und wenn so etwas gewissermaßen subkutan mit Humor und viel Lachen stattfindet - keineswegs spinnert.

Aber von vorn. Im Zentrum der Handlung stehen Marion (Christina Huckle), verheiratet mit Christian (Alexander Stürmer) und deren Tochter Mia (Ronja Oehler). Sie sind gerade zurückgekommen von der Beisetzung von Christinas Mutter. Die Eltern stehen in der Küche und rekapitulieren das Vergangene. Die Tochter, Studentin, das erste Mal nach zwei Jahren wieder zuhause, ist im Auto sitzen geblieben. Sie will noch telefonieren. Das gibt Gelegenheit, die Familie genauer vorzustellen: Marion ist einerseits engagierte Ärztin, der der direkte Kontakt zu ihren Patientinnen wichtig ist, andererseits steht sie im Wahlkampf. Sie will Bürgermeisterin ihrer Stadt werden mit einem „genialen“ Überlebenskonzept. Christian ist Influencer. Allerdings nicht ganz freiwillig. Zuvor hat er als Journalist durch Einführung von KI bei seiner Zeitung für seine eigene Arbeitslosigkeit gesorgt. Nun zieht er durch die Stadt und bekämpft die automatischen Paketboten, die Bestellungen ausliefern. Kaum zuhause angekommen, zückt er sein Handy um seinen Status zu überprüfen. Maria hingegen greift erst einmal zum Weißwein, der einem sorgfältig geprompten Kühlschrank entnommen wird. Der kann sprechen und Anordnungen ausführen: Auf Befehl wird Weißwein auf die Einkaufsliste gesetzt, er erzählt den aktuellen Wetterbericht, kann Kuchen auftauen, wobei er höflich nachfragt, welcher es denn sein darf, und wenn er getreten oder beleidigt wird, jault er. Also ein hochmoderner Haushalt. Bloß die Menschen darin sind anscheinend noch nicht so weit. Maria ist froh, dass ihre Mutter unter der Erde ist, ebenso Christian, nun kann er sich wieder mit seinem Handy beschäftigen und Mia im Auto wird immer verzweifelter, weil ihr Gesprächspartner oder Gesprächspartnerin - das wird zunächst nicht klar - auf ihre Sprachnachrichten - Sprachis genannt - nicht reagiert. Zum weiteren Umkreis gehört neben Maia (Gesa Schermuly) - dazu später mehr - noch Opa (Thomas Wolff). Opa läuft mit Werkzeug in unregelmäßigen Abständen über das Grundstück. Wenn er sich Mia im Auto nähert, raunt er, er habe alles fertig, alle können kommen. Unklar zunächst, was er fertig hat, weshalb man kommen könne. Wobei - da er ständig mit Werkzeug herumrennt und hie und da arbeitet, ist die Frage nach der Fertigstellung gerechtfertigt.

Im Verlauf der zunehmenden Verzweiflung Mias stellt sich heraus: bei ihrem Gesprächspartner handelt es sich um eine Animara, Kennzeichen A 72-80-F. Mias ziemlich lang stumm bleibende Gesprächspartnerin ist die lebendig gewordene Avatarin Maia, ihrer Bestellerin wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie ist nicht nur optisch ihre Zwillingsschwester, auch im Verhalten und überhaupt. Und überhaupt heißt, dass Maia auf Mias Gesprächsaufforderung, ihre gemeinsam getroffene Verabredung, nach der großmütterlichen Beisetzung den Eltern den Abschied zu geben, nicht reagiert. Mia möchte ihre Familie verlassen, aber das schafft sie nur mit Maias Hilfe. Aber Maia spielt nicht mit. Sie entpuppt sich als genauso störrisch wie ihre Schöpferin. Und als sie dann doch endlich erscheint, ist die Familie schon ziemlich genervt von sich und den gegenseitigen Gesprächsverletzungen. Insofern ist es auch logisch, dass sie als Streitschlichterin, als Polizistin erscheint. Bei der Begegnung Mias mit ihrem Double wird es grundsätzlich, denn Mia findet es bescheuert, dass Maia in Uniform auftritt. Maias Begründung für diesen Auftritt legt den Finger in Mias Wunde. Mia besteht darauf, Maia habe sie zu doubeln: „MICH!“. Maia widerspricht: „Du hast doch gesagt, ich soll dich überraschen! Dass es dich nervt, dass ich immer nur sage, was du hören willst. Und dass du auf Uniformen stehst.“

Autorin Laura Naumann greift hier humorvoll eine Diskussion auf, die neulich im Magazin Der Spiegel so auf den Punkt gebracht wurde: „Muss sich die Menschheit wirklich um das Wohlbefinden heutiger KI-Systeme sorgen?“ Im Hintergrund dieser Frage steht das Problem, ob KI sogenannte „exit rights“ bekommen soll/darf/muss, um eventuell den Dialog mit dem Nutzer von sich aus zu beenden. So entsteht daraus eine moralische Diskussion. Denn eine vermeintlich bewusste KI könnte ja eine enge Bindung zum Nutzer aufbauen und ihn dann eventuell manipulieren. Umgekehrt könnte allerdings der Nutzer ja auch „seine“ KI bedrängen, was Elon Musk schon mal zum voreiligen (?) Ausspruch verführte: „KI zu foltern, ist nicht ok.“

Im vorliegenden Fall ist es eher umgekehrt: Maia verselbständigt sich bis hin zum totalen Mia-Ersatz bei deren Eltern. Der Weg dahin ist turbulent. Maia entwickelt zunehmend mehr Selbstbewusstsein, bei Mia ist es umgekehrt. Das gipfelt darin, dass Mia ihr Double über die Service-Hotline abschalten lassen möchte. Sie bekommt aber keinen richtigen Kontakt. Entnervt verlangt sie: „Ich will mit einem richtigen Menschen sprechen!“ Das wäre eigentlich ganz einfach. Außerhalb des Autos, in dem Mia immer noch und immer wieder sitzt, wären ja die Eltern und Opa. Aber die zählen nicht. Und so steuert die Sache auf die Katastrophe zu. Das klingt nicht nach dem am Anfang versprochenen Humor. Gemach.

Genial ist das Bühnenbild (Mikhail Zaikanov) gelöst. Auf der rechten Hälfte der Bühne ist die Küche mit einem Ausgang zur Terrasse auf der Vorbühne. Diese Küche kann durch einen Vorhang verdeckt werden. Auf diesen werden dann die Szenen projiziert, die im Auto spielen. Bemerkenswert, dass für diese Aufnahmen kein Regisseur extra genannt wird. So wird wohl die Ton- und Medientechnik des Theaters unter Leitung von Falko Heidemann dafür zuständig gewesen sein. Ein großes Lob dafür. Indem Maia sich immer mehr um die Wehwehchen ihrer Gasteltern kümmert und so Mia immer weiter vergessen macht, in dem gleichen Maße wächst natürlich Mias Wut. In einem Gespräch mit Opa findet sie zu einer Entscheidung, von der freilich nicht klar wird, was sie bedeutet. Sie möchte anders leben. Dabei stellt sich heraus, dass Opa an einem Bunker baut, also gewissermaßen ein Prep ist. Mia würde gern mit Opas Gewehr alle erschießen, aber das klappt nicht. Immerhin entwindet sie Opa das Gewehr und eilt damit in Küche. Dort gehen sich Maria und Christoph symbolisch an die Gurgel, Maia therapiert. Schon erstaunlich, was so eine Avatarin alles kann. Aber Mia besteht nun darauf, dass die alten Familienverhältnisse wieder hergestellt werden. Mia enttarnt Maia als ihr künstliches Double. Doch das mit der Künstlichkeit ist nicht mehr so offensichtlich. Sie redet z. B. mit Mias Eltern über ihre Ehe. Außerdem hat sie ja das Autonomie-Upgrade und das neue Empathie-Feature eingerichtet bekommen. Das testet sie gerade gründlich aus. Und dann kommt es zum Schwur. Maia berichtet vom Mind-Set ihrer Aufgaben. Daraus ergibt sich im Grunde die Fehlerskala in Mias Erziehung. Maia weiß alles über die Familie. Aber das hilft ihr nicht. Erst will die Familie - also die Eltern - alles, was sie sagt, glauben, dann verfällt sie ins Gegenteil. Und dann kommt es zum Kampf. Maia, die inzwischen Mias Platz eingenommen hat, erzählt, dass Mia sich freiwillig gemeldet hat. Ungläubiges Staunen auf allen Seiten. Die Situation eskaliert. Maia sprintet zu Mia ins Auto. Doch autonom, wie sie inzwischen geworden ist und sich auch fühlt, verfolgt sie weiterhin einen anderen Plan. Aber der funktioniert nicht. Ein letztes Mal versuchen die beiden sich zu verstehen. Es endet in einer Katastrophe, als die Eltern versuchen, das Auto zu erstürmen. Zwar überlebt Maia die Katastrophe, aber die Eltern sehen in ihr nur Mia, selbst als Opa sie versucht aufzuklären. Zum Schluss wird gesungen, denn Musik verbindet.

Die gründlich durchgearbeitete Inszenierung von Schauspieldirektor Dariusch Yazdkhasti zeigt die Fragwürdigkeit des unbedingten Vertrauens in moderne Technik wie KI ebenso wie in die des Bunkerbaus zum Überleben in einer unbewohnbar gewordenen Welt. Christina Huckle als Marion gab hie eine zugewandte Ärztin, da eine hochstapelnde Wahlkämpferin. Und dann eine jämmerliche Mutter und Ehefrau. Opas Bunker, so zeigt sich, ist Marions Idee. Alexander Stürmers Christian ist ein Pantoffelheld mit Internetflausen im Kopf, der es sich im Haus seiner wohlhabenden Gattin gut gehen lässt. Ronja Oehler zeigt als Mia die Bandbreite der jungen Tochter und Studentin, die einerseits die Schlechtigkeit der Welt - speziell ihrer Familie - durchschaut hat und für sich eine Entscheidung getroffen haben will. Aber die Emotionen spielen ihr da immer wieder einen Streich. Gesa Schermulys Maia beginnt als coole Polizistin, die die Situation im Griff hat. Das steigert sie bis hin zur Therapeutin der Familie. Aber der Absturz kommt und sie endet als das liebe Kind der Familie. Bleibt Thomas Wolffs Opa. Er ist der wunderliche Held, der sich hinter der Rolle des Narren versteckt, der behauptet, ganz allein einen unterirdischen Bunker bauen zu können. So beobachtet er den Gang des sich selbst zerstörenden Familienlebens. Er weiß freilich auch um die Fragilität seines Daseins als geduldeter Sonderling und hat damit ganz besondere Auftritte.

Das Publikum dankte die schwungvolle Aufführung dieser Tragikomödie mit lebhaftem Applaus und Begeisterung.